Maria A. Kafitz

Beständigkeit im Wandel

Nr 201 | September 2016

Vom Zauber dreier litauischer Orte

Stille legt sich mit der sanfter werdenden Nach­mittags­sonne über den See. Und während die Geräusche in den Hintergrund treten, werden die Farben kräftiger und gewinnen das Spiel mit Licht und Schatten.
«Für mich hätte der Trubel heute ruhig noch etwas länger dauern können», meint Pranas beim Festmachen seines Bootes in erstaunlich gutem Deutsch. «Ich mag es, wenn ich zeigen kann, wie schön es hier ist. Wenn ich zeigen kann, was wir haben. Sonst wird ja oft nur gezeigt, was wir nicht haben!» Dass er im materiellen Sinne nicht viel hat, weiß er – zumindest im Vergleich mit den meisten Touristen, denen er stolz sein «Schätzchen» zeigt. Dass er das Wenige aber als Reichtum anderer Art empfindet, merkt man ihm beim lächelnden Blick übers Wasser zur Burg von Trakai an. «Wer hat schon einen so schönen Arbeitsplatz? Auf meinem Acker habe ich zwar auch schöne Natur und außerdem gute Kartoffeln, aber niemanden zum Erzählen und Lachen. Auf dem Boot kann ich erzählen und mit den Leuten lachen, die hierher in meine Heimat kommen. Die Touren bringen auch mehr als meine Kartoffeln. So ehrlich will ich schon sein. Aber im Winter bin ich dann doch froh, dass ich auch die Kartoffeln habe!», sagt er verschmitzt und findet trotz der wie von Zauberhand verschwindenden Besucherzahl ab 17 Uhr wider Erwarten noch eine kleine Gruppe, die eine Runde übers Wasser schippern will.
Pranas freut’s – er kann wieder erzählen. Er kann lachen. Und er kann zeigen, was sie hier haben.

Diese Haltung ist bedenkenswert in all der vorherrschenden Neigung zum Benennen des Negativen, zum Betonen dessen, was nicht so ist, wie man es gerne hätte. Den Blick auf das Schöne richten – ihn borge ich mir von Pranas für diese Reportage über Litauen aus und schaue auf das, was ist, und zwar an drei unterschiedlichen Orten in diesem Land, das im Lauf der Geschichte so viele Größen-, Grenz- und Regimewechsel erduldet und überwunden hat, dass einem leicht schwindelig werden kann.
Ein kurzer geografisch-historischer Abriss soll dies zeigen: Litauen ist der südlichste der drei baltischen Staaten mit einer Größe von heute 65.303 km² und rund 2,9 Mio. Einwohnern. Im Westen grenzt es an die Ostsee und hat gemeinsame Grenzen mit Lettland, Weißrussland, Polen und der russischen Oblast Kaliningrad. Die eigentliche Staatsgründung liegt im 13. Jahrhundert, aber schon seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. haben baltische Stämme das heutige Gebiet be­siedelt. Von 1253 bis 1795 war Litauen ein Großfürstentum, ab 1569 in Union mit Polen. Mit der 3. Teilung Polens 1795 fiel Litauen ans zaristische Russland, 1918 erklärte es als Republik seine Unabhängigkeit. Nach der sowjetischen Okkupationszeit ab 1940 erlangte es schließlich 1990 wieder staatliche Souveränität und trat 2004 der Europäischen Union sowie der NATO bei. Seit 2015 ist Litauen außerdem das 19. Mitglied der Eurozone.
So viel in aller Knappheit. Bei dieser Zusammenstellung der äußeren Fakten stieß ich zudem auf folgende kleine Anekdote, die noch genannt sein will: Wissenschaftler des Institut Géographique National in Frankreich errechneten 1989 den geografischen Mittelpunkt Europas und ermittelten ihn im Dorf Purnuškes etwas nördlich von Vilnius.

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Fotos: © Sebastian Hoch | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Na, das würde Pranas erneut lächeln lassen, liegt sein «Schätzchen» doch auch nahe der als «Rom des Nordens» bezeich­neten Hauptstadt Litauens, wenngleich in west­licher Richtung. Und es liegt in einer landschaftlich überaus anmutigen Umgebung, die von rund 200 Seen durchzogen ist. Drei dieser Seen, der Galve-, der Luka- und der Totoriskessee, umgeben eine Insel, auf der jene Burg thront, die so viele Besucher nach Trakai lockt. Gleich einem gewaltigen fünfmastigen Schiff, das in See stechen möchte, steht die rote, bis ins Detail liebevoll restaurierte Burg mit ihren fünf Türmen an der Inselspitze. Allein die hölzerne Brücke, die sie mit dem Festland verbindet, scheint die Abfahrt zu verhindern. Wie standhaft sie und ihre damaligen Bewohner sein konnten, beweist ihre Geschichte. Denn während der wilden und blutigen Kämpfe, vor allem mit den Rittern des Deutschen Ordens, trotzte sie stets den Angreifern, denen es nicht gelang, die Litauer zu unterwerfen. Angeführt vom wehrhaften Groß­fürsten Vytautas wurde die Wasserburg von Trakai zur Wiege des litauischen Staates.
Heute ist nichts mehr von den Kämpfen zu spüren, dafür aber leben hier immer noch einige wenige Karaimen, auch Karäer genannt, Nachfahren jener Minderheit, die Vytautas zusammen mit den Tataren zur Stärkung im 14. Jahrhundert als Palastwachen in Trakai ansiedelte. Sie sind in vieler Hinsicht ein kleines, aber besonderes Völkchen: Ihre Ursprünge gehen zurück ins 8. Jahrhundert in Baby­lonien; vom Namen her – Kara im – heißen sie «Söhne der Schrift» und entstammen einer jüdischen Gemeinschaft, die sich dem Alten Testament, nicht aber dem Talmud und der rabbinischen Tradition verpflichtet fühlt.
Ihrer «zweite Heimat» fanden die Karaimen auf der Halbinsel Krim. Dort bewahrten sie sich zwar die hebräische Schrift, übernahmen aber die tatarische Sprache und bildeten ganz eigene Dialekte aus, die bis heute – zumindest in religiösen Zusammenhängen in der Kenessa, ihrem traditionellen Gebetshaus – gesprochen werden. Ab und an sind sie auch noch auf den Straßen Trakais zu hören. Andere ihrer alltäglichen Besonderheiten sind heute zudem dort zu erleben – im Stadtbild mit den verzierten kleinen Holzhäusern, die am Giebel je ein kleines Fenster für den Hausherrn, den Fürsten und für Gott aufweisen, oder auf den Speisekarten der Restaurants.

Eine Besonderheit ganz anderer Art lockte mich weg von den schönen Seen und hinein in den Wald. Litauens tiefe Wälder müsste eigent­lich ein Regisseur für Märchenfilme längst entdeckt haben, denn hier findet man verwunschene Kulissen, die sonst erst mühe- und kunstvoll erdacht und gebaut werden müssen. Und man findet Baumriesen, die manchmal ein ungewöhnliches Zweitleben führen. So zumindest in Bijotai, einem kleinen Ort im Landesinneren, an dem der etwas kauzige Literat, Sprachforscher, Historiker und Ethnograph Dionizas Poška (1765–1830) sein Glück gefunden und wo er seinen Landsitz zur Begegnungsstätte aller Schichten und Klassen erkoren hatte. Gemeinsam mit den Menschen vor Ort legte er einen Park an und eröffnete in ihm 1812 eine kleine Sensation: Litauens erstes Museum!
Das allein wäre schon eine Erwähnung wert – wer dann aber noch sieht, worin sich dieses Museum befindet, ist begeistert. Poška liebte nämlich Bäume und vor allem die mächtigen Eichen der litauischen Wälder. Eine Eiche hatte es ihm besonders angetan – und nachdem ein Blitz die Krone des Baumes getroffen hatte und er verloren schien, nahm sich der Dichter seiner an, ließ den Koloss von 12 Metern Umfang aushöhlen, mit einem Dach, einer Tür und einem Fenster versehen und machte ihn zu seiner Schreib- und Studierstube sowie zur öffentlichen Bibliothek. Der «Baubliai», wie das pilzförmige Häuschen genannt wird, bekam noch einen kleinen Bruder, in dem Poška von nun an seine historische Kuriosi­tätensammlung aus Knochen, Ritterrüstungen u.a. ausstellte. 1971 wurden die Pilzhäuser schließlich zum Schutz gegen Wind und Wetter mit einem Glasdach versehen, und in den Folgejahren wurde das Gelände um ein kleines Besucherzentrum und einen hübschen Park ergänzt. Noch heute arbeiten meist junge Menschen aus der Umgebung an diesem Ort der «Begegnung und des Entdeckens», wie ihn schon Poška nannte. So auch Marijona, die mit strahlendem Gesicht alle kleinen und großen Baubliai-Schätze zeigt und erklärt. «Erzählen Sie von hier», sagt sie, «denn wer hier war, geht verzaubert fort. Und es ist ein guter Zauber!»

Als Marijona erfährt, dass die Reise weiter gen Westen ans Meer und dort auf die Kurische Nehrung geht, schaut sie selbst wie verzaubert. «Das ist die wohl schönste Gegend in ganz Litauen. Ach, das Meer, die einsamen Strände und die Dünen! Riesige Dünen gibt es dort. Es ist fast wie in der Wüste.»
Wie recht sie hat, denke ich schon bei der Überfahrt mit der Fähre von der emsigen Hafenstadt Klaipeda aus, in der erneut – wie so vielen Orten in Litauen – eine «Kunstspezialität» ins Auge sticht: Überall, ob in Klein- oder Groß­städten oder auch in Dörfern auf dem Land – überall sind Skulpturen zu finden. Auf Hausdächern und Mauervorsprüngen sitzen sie, in Parks und Fußgängerzonen begegnen sie einem, auf Markt- oder Kirchplätzen bilden sie kleine Ensembles oder sind als Skulpturengärten angelegt. Freie Arbeiten, abstrakte Formen und konkrete Szenen und Figuren aus Stein, Metall oder Holz ziehen sich wie ein gestalteter Formwille durchs ganze Land. Woher die Leidenschaft für gerade diese Kunstform kommt, konnte mir niemand erklären. Vielleicht hängt es ja damit zusammen, dass eine Skulptur weniger flüchtig ist und dafür sehr viel gestaltete Beständigkeit zum Ausdruck bringt. Vielleicht.

In kaum einem Besucher bleibt ein Vielleicht im Sinne eines Zweifels zurück, wenn er die Kurische Nehrung kennengelernt hat, denn dieser 98 Kilometer lange und extrem schmale Landstreifen, der das Kurische Haff von der Ostsee trennt und zur einen Hälfte zu Litauen, zur anderen zur russischen Exklave Kaliningrad gehört, ist eine ganz und gar einzigartige Landschaft von hinreißender Schönheit – durchgängig Naturschutzgebiet und UNESCO-Welterbe. Es wundert nicht, dass seit jeher Kunstsinnige dort ihre Inspirationsquelle fanden – besonders rund um den Ort Nida, der noch heute vom vergangenen Ruhm der großen Namen zehrt. Nebst Thomas Mann, der einen Teil seines Literaturnobelpreisgeldes in ein Domizil auf dem Schwiegermutter(zauber)berg steckte und in den Sommern von 1930 bis 1933 dort an den Josephsgeschichten schrieb, waren es vor allem bildende Künstler, die bei Hermann Blode, einem einflussreichen und großzügigen Mäzen, ein und aus gingen: Lovis Corinth wohnte bei ihm, Max Pechstein kam häufig zu Besuch, und auch Karl Schmidt-Rottluff verbrachte dort manch ausgelassenen Sommer und rannte durch die schier endlosen Dünen.
Wer eine dieser vom stetigen Seewind aufgeschütteten Dünen besteigt, fühlt sich in eine andere Welt versetzt. Eine Welt aus Sand in Bewegung. Leise klicken die pastellfarbenen Körnchen aneinander, wispern eine sanfte Melodie und bilden in ständiger Veränderung immer neue Verläufe und Strukturen. In der «litauischen Sahara», wie die Region um Nida auch bildhaft genannt wird, ist nichts starr. Alles ist im gestalteten Wandel begriffen. Beim Blick auf dieses unbeschreibliche Formenmeer aus Sand fällt mir Pranas wieder ein und seine Freude darüber, wie schön es hier ist.