Titelbild Hochformat

Emiel de Wild

Brudergeheimnis

Nr 201 | September 2016

gelesen von Simone Lambert

Ein fast Zwölfjähriger fällt aus der Kindheit, als sein Bruder plötzlich verschwindet. Zu Beginn der Sommerferien, für die die Brüder Pläne geschmiedet hatten, wird Juri über­raschend zu Oma Bos gebracht. Sein Bruder Stefan ist nicht mehr zu erreichen, er geht nicht ans Handy und antwortet nicht auf Juris Briefe. Niemand sagt ihm, wo sein Bruder ist, was passiert ist. Er soll Stefan vergessen. Die Eltern ziehen mit Juri an einen fremden Ort in ein neues Haus, in dem es kein Zimmer für Stefan gibt. Juri vermisst ihn schmerzlich. Er reagiert verstört, wütend und traurig, insistiert mit all seiner jugend­lichen Renitenz. Und er wendet sich mit seinen Fragen und Erlebnissen in Briefen an den Älteren. Als seine Eltern ihm endlich die Wahrheit sagen, ist diese schrecklicher als alles, was er sich vorstellen konnte. Ein Jahr lang schweigt er, dann nimmt er das Briefeschreiben an den Bruder wieder auf.
Was der Leser erlebt, ist die prekäre Situation zwischen den Eltern, die den Grund für den Neustart um keinen Preis nennen wollen und ihrem Sohn, der ohne Erklärung aus einer lebenslangen engen Bindung gerissen wird. Am meisten belastet die Beziehung, dass die Eltern etwas von Juri verlangen, das sie selbst nicht einhalten können: Stefan vergessen. Vor allem Juris Mutter, die manisch-depressive Züge zeigt, will Juri um jeden Preis beschützen. Spät erst erfährt Juri, dass die Eltern für Stefans Tat geächtet und beschimpft wurden und dass sie ihn vor dieser Erfahrung bewahren wollten. Das Geschehene wird die Familie auseinanderreißen.
Ungefragte Unterstützung findet Juri in Lonneke, die er in seiner neuen Schule kennenlernt. Lonneke findet schnell heraus, was Juri verschweigen möchte: die Existenz Stefans. Zielorientiert und unverfroren begibt sie sich auf Spurensuche. Sie ist es, die Juris eigene Tabugrenze durchstößt. Denn auch Juri fürchtet sich vor der Wahrheit.
Der Briefroman von Emiel de Wild ist eine Annäherung an ein schreckliches Geheimnis und an eine brüchige Bruderfigur. Stefan, der erst ganz am Ende mit einem eigenen Brief in Erscheinung tritt und als Persönlichkeit schemenhaft bleibt, ist impulsiv und gedankenlos, setzt aber voller Energie um, was ihm in den Sinn kommt. Sein kleiner Bruder bewundert ihn dafür, hat aber auch die Rolle des Aufpassers übernommen. Denn Stefan überschätzt sich selbst und kennt keinen Sinn für Regeln.
Kann man einen Menschen lieben, der Böses getan hat? Kann er noch Teil einer Familie sein? Das Thema Gewalt vermittelt im Jugendbuch gemeinhin die Perspektive der Täter oder des Opfers. Hier geht es um die verheerende Wirkung, die sie auf das soziale Umfeld des Täters hat und das ist ungewöhnlich. Vor allem, weil der Autor mit der Wendung am Ende des Romans den Versuch einer Heilung wagt. Wenn Juri an Stefan schreibt: «Aber ich will dich doch als Bruder. Dich voll und ganz. Nicht nur einen Teil, den Teil, der nett ist (…). Das wäre unehrlich (…) Ich werde mir Mühe geben, dich voll und ganz zu lieben. Das verspreche ich. Aber willst du dann auch mich voll und ganz liebhaben? Den Juri, der leidet wegen dem, was du getan hast?», dann erkennt de Wild darin die einzige Möglichkeit, aller Leben für eine bessere Zukunft zu retten.
Ein dramatisches, erschütterndes Buch, das zur Diskussion über Schuld, Sühne und Vergebung herausfordert.