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Jean-Claude Lin

Höflichkeit wird zu Herzenstakt

Nr 201 | September 2016

Es ist erstaunlich, ja zuweilen erschütternd, welche weitreichenden Folgen eine unscheinbare, alltägliche Handlung manchmal haben kann:
Nicht weit von Danzig entfernt lebte ein wohl­habender chassidischer Rabbi, Nachfahre einer berühmten Dynastie von Chassidim. Bekleidet mit ­einem schwarzen Maßanzug, einem Zylinder und einem silbernen Spazierstöckchen in der Hand, pflegte er seinen täglichen Morgenspaziergang zu unternehmen. Während seines morgendlichen Bummels grüßte der Rabbi alle Männer, Frauen und Kinder mit einem warmen Lächeln und einem herzlichen ‹Guten Morgen!› Im Laufe der Jahre machte der Rabbi auf diese Weise mit vielen seiner Landsleute Bekanntschaft.
Er grüßte sie immer mit ihren ordnungsgemäßen Titeln und Namen. Am Stadtrand in den Feldern tauschte er den Morgen­gruß mit Herrn Müller, einem polnischen Volksdeutschen. ‹Guten Morgen, Herr Müller!›, begrüßte der Rabbi den Mann auf dem Feld. ‹Guten Morgen, Herr Rabbiner!›, erwiderte dieser mit einem gutmütigen Lächeln. Dann brach der Krieg aus. Die Spaziergänge des Rabbi fanden ein jähes Ende. Herr Müller legte eine SS-Uniform an und verschwand aus den Feldern.
Das Schicksal des Rabbi war das vieler polnischer Juden. Er verlor seine Familie in den Todeslagern von Treblinka und wurde nach langem Leidensweg nach Auschwitz deportiert. Eines Tages, während einer Selektion in Auschwitz, stand der Rabbi in einer Reihe mit Hunderten anderer Juden, den Augenblick erwartend, da ihr Schicksal besiegelt werden würde, zum Leben oder zum Tode. ‹Rechts! Links, links, links!› näherte sich die Stimme. Plötzlich fühlte der Rabbi das dringende Bedürfnis, das Gesicht des Mannes mit den schneeweißen Handschuhen, dem Stöckchen und der stählernen Stimme zu sehen, der da Herrgott spielte und über Leben und Tod entschied. Er hob seine Augen und hörte sich sagen: ‹Guten Morgen, Herr Müller!› – ‹Guten Morgen, Herr Rabbiner!›, erklang eine menschliche Stimme unter der mit dem Totenkopf verzierten SS-Mütze. ‹Was machen Sie denn hier?› Ein mattes ­Lächeln huschte über das Gesicht des Rabbi. Da wies der kleine Stock nach rechts – zum Leben. Am nächsten Tag wurde er in ein anderes Lager verlegt …»*
Auf seinen Morgenspaziergängen grüßt der Rabbi alle zunächst nur mit einem «Guten Morgen!», dann aber in aller Form mit «Titeln und Namen». Er ist ohne Zweifel ein höf­licher Mensch, aber man spürt gleich: er ist es mit Neigung. Die Höflichkeit, die er ausübt, strahlt Freude aus, Freude an der Achtung vor dem anderen. Durch die Ereignisse, die den Rabbi nach Auschwitz führen, ist die Freude dem lebendigen Tod gewichen, der Rabbi hört sich – der er einmal war – sagen: «Guten Morgen, Herr Müller!» Wie eine zweite Natur ist ihm die geübte Herzens­höflichkeit geblieben, und für einen Moment erlangt auch derjenige, der früher auf dem Feld arbeitete, seine mensch­liche Würde wieder: «Was machen Sie denn hier?» ist die absurde, hilflose, unreflektierte Frage des an seiner «Unschuld» wieder er­wachenden Herrn Müller.
In die konventionellen Formen der Höflichkeit wachsen wir hinein. Sie können uns sehr wohl nur äußerlich berühren. Ihre ge­dankenlose Beherrschung entkräftet sie. Die leeren, steifen Formen einer Gesellschaft provozieren mit der Zeit ihre Missachtung. Aber da, wo der freie Mensch sie bewusst ergreift, weil er die Gemeinschaft, in der bestimmte Umgangsformen gepflegt werden, achtet, weil er auf die Ursprungsgesten hinter einer Höflichkeitsform blicken kann und sie neu gebiert, da schafft er an seiner höheren, zweiten Natur.
Das Herz vermittelt zwischen oben und unten, zwischen den Intuitionen des Geistes und den Gegebenheiten des Leibes und allem Gewordenen, Konventio­nellen im Menschenleben. Im Herzenstakt lebt die aus freier Ein­sicht und freiem Willen neu bestimmte Achtung vor dem anderen: die Höflichkeit.**