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Eva Schweikart

Brot und Schokolade

Nr 202 | Oktober 2016

Der Schreibtisch ist seit jeher mein Arbeitsplatz. Erst stand er im Verlag, seit ich freiberuflich arbeite, steht er im häuslichen Arbeitszimmer, mitunter auch in einem Übersetzerhaus. Übersetzerhäuser sind segensreiche Einrichtungen; man kann sich für eine Weile dort einnisten, um ganz in Ruhe zu arbeiten, aber auch, um Kolleginnen und Kollegen zu treffen.
Am Schreibtisch – hier oder da – sind im Lauf der Jahre viele Übersetzungen aus dem Niederländischen und Englischen entstanden. Weil mich nicht alle Bücher gleichermaßen begeistern – was mich nicht davon abhält, jedes so gut zu übersetzen, wie ich nur kann –, teile ich die Aufträge in «Brot-» und «Schokoladenbücher» ein. Zu Letzteren zählt der Roman Kellerkind von Kristien Dieltiens über den berühmten Findling Kaspar Hauser und einen fiktiven Weg­begleiter. Die Handlung spielt zwischen 1780 und 1833, und dem hat die Autorin sprachlich Rechnung getragen.
Wie geht man an solch ein Buch heran? Erst einmal bereue ich. Aber nicht etwa, den Auftrag übernommen zu haben, sondern dass unter den vielen Workshops, die ich besucht habe, keiner zum Thema «Übersetzen historischer Romane» war. Ein Versäumnis, das ich baldmöglichst nachholen werde. Aber mit dieser Erkenntnis ist mir wenig gedient, denn ich muss mit der Arbeit anfangen, weil ich einen Abgabetermin habe. So bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen eigenen «Werkzeugkasten» zusammenzustellen.
Als Erstes informiere ich mich über die Literatur zu Kaspar Hauser und merke schnell, dass der Weizen mit Spreu durchmischt ist. Neben seriösen Lebensbeschreibungen existieren etliche Bücher mit seltsamen Verschwörungstheorien. Ja, der Mythos gibt noch heute Anlass zu Spekulationen aller Art!
Nun beginne ich mit der Rohübersetzung. Denn ich will die Geschichte nicht nur auf Papier (bzw. als Textdatei), sondern vor allem im Kopf haben, wenn ich mit dem Lesen der Sekundär­literatur beginne. Als Nächstes folgt die Bearbeitung – die aufwendigste Phase, weil damit ein Großteil der Recherche verbunden ist. Und auch, weil ich nebenher viel lese, um mich in die Zeit einzufühlen: Romane, die im frühen 19. Jahrhundert spielen bzw. damals verfasst wurden. Denn oft sind es Kleinigkeiten, mit denen sich Atmosphäre schaffen lässt – Wörter, die im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr vorkommen, zum Beispiel «eilends» statt «eilig», «abermals» statt «wieder», «dereinst» statt «irgendwann», «Schänke» statt «Gasthaus» usw. Anachronismen in historischen Romanen sind fast schon Todsünden.
Deshalb ziehe ich ständig meine etymologischen Wörterbücher zu Rat. Und lerne, dass es Wörter gibt, die vor 200 Jahren zwar benutzt wurden, aber nur fachsprachlich, etwa «reagieren».
Was mir auch geholfen hat: Ich bin in Süddeutschland aufgewachsen und kenne einige der Handlungsorte. In Nürnberg, wo Hauser 1828 aufgefunden wurde, habe ich sogar ein paar Jahre gewohnt. Dort war ich zu Besuch, kurz nachdem ich erfahren hatte, dass ich Kellerkind übersetzen würde. Ein Ab­stecher ins nahe Ansbach bot sich an, wo ich nicht nur im Kaspar-Hauser-Museum war, sondern auch auf Hausers Spuren gewandelt bin – von der Pfarrstraße, wo er bei einem Lehrer wohnte, vorbei am Gericht, wo er als Schreiber arbeitete, bis zum Hofgarten, wo er im Dezember 1833 den Tod fand.
Auf diese Weise war ich fast ein Jahr mit dem Buch von Kristien Dieltiens und dem Leben und Schicksal Kaspar Hausers beschäftigt – ein Jahr, das mein Übersetzerdasein bereichert hat, sodass ich aus voller Überzeugung sage: «Das war Schokolade vom Feinsten!»