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Günther Dellbrügger

Wofür nehmen wir uns Zeit?

Nr 202 | Oktober 2016

Wer erinnert sich nicht an Michael Endes wunderbare Figur Momo? Momo ist ein Straßenkind ohne Familie, ohne Zuhause. Sie verfügt über Zeit und kann anderen Menschen aufmerksam und selbstlos zuhören – und dieses Zuhören bewirkt Wunder bei den Menschen ihrer Umgebung! Einfältige Leute erhalten im Gespräch mit ihr kluge Gedanken, die ihnen weiterhelfen, ohne dass Momo auch nur ein Wort sagen müsste. Allein ihre volle Aufmerksamkeit und Anteilnahme lässt ratlose Menschen finden, wonach sie gesucht haben, sie macht schüchterne frei und mutig und gibt jedem Menschen das Gefühl, dass er wichtig für die Welt ist. Nach einer solchen Empathiefähigkeit sehnen wir uns heute. Das Erüben eines Zuhörens dieser Qualität ist für unsere Zeit eine unerlässliche Fähigkeit.
Ein solches Zuhören erfordert Aufmerksamkeit und Zeit. Wie aber gehen wir mit unserer Zeit um? In Momos Geschichte erscheint unsere Gegenwart, erscheint das, was wir an Zeit zur Verfügung haben, als Verwaltungsmasse eines Heeres der Zeitdiebe: Kleine graue, identisch aussehende und auftretende Herren, die die Menschen antreiben, Zeit einzusparen. Sie zwingen sie zu immer neuen Maßnahmen, weitere Zeitersparnisse zu erreichen. In Wahrheit aber verlieren die Menschen dadurch ihre Zeit, auf subtile Weise werden sie ihrer beraubt. Wir kennen das Gefühl: «Da ist etwas, das ich gern tun würde, doch ich habe keine Zeit!»
Eindrucksvoll schildert Michael Ende das Typische dieser Zeitdiebe: Sie sind hochintelligent, in allem schnell und verschlagen. Ihr Tun ist zentral gesteuert, und eine wesenhafte Kälte geht von ihnen aus. Sie betrachten Kinder als ihre «natürlichen Feinde»!
Warum gerade Kinder? Liegt es daran, dass Kinder ganz im Hier und Jetzt leben und sich nicht in Zeitzwänge pressen lassen, da sie noch keinen Terminkalender haben? Hier stößt die Macht der grauen Männer an ihre Grenzen!
Momos entscheidende Helferin ist die Schildkröte Kassiopeia. Sie ist das Urbild der Langsamkeit, verkörpert die Weisheit und hilft Momo in den entscheidenden Momenten. In höchster Not taucht sie wie aus dem Nichts auf und weist Momo den geheimnisvollen Weg zu Meister Horus, dem Herrn aller Zeit. Sie schenkt ihr «Mut ohne Grund», als sie vom übermächtigen Heer der Zeitdiebe verfolgt wird. Die Langsamkeit der weisen Schildkröte lässt Momo das wahre Geheimnis der Zeit ahnen: Ist die Zeit etwas wie ein Duft? Oder wie der Wind? Oder ist sie eine Art Musik, die man bloß nicht hört, weil sie immer da ist?
Und wie verhält es sich denn mit den Dingen, die immer da sind? Oft laufen wir Gefahr, all das, was uns scheinbar dauer­haft umgibt, als selbstverständlich, als garantiert anzusehen – und dadurch seinen Wert zu vergessen. Aber nicht nur das.
In Momenten, in denen uns etwas vermeintlich Selbstverständliches genommen wird, reagieren wir spontan verwundert und enttäuscht. Solche Momente können aber auch ein Aufwachen herbeiführen, eine gesteigerte Aufmerksamkeit für etwas, das wir unbedacht als garantiert angesehen haben. («Selbstverständlich» heißt im Englischen for granted.)
Eines ist gewiss: Für das Nachdenken über die Zeit und darüber, wie wir mit ihr umgehen, sollte man sich immer wieder Zeit nehmen.