Christof Schenck im Gespräch mit Maria A. Kafitz

Nichts ist statisch in der Natur

Nr 203 | November 2016

Wir bewahren Wildtiere und ihre Lebensräume, und dies vor allem in Schutzgebieten und herausragenden Wildnisregionen.» So formuliert die «Zoologische Gesellschaft Frankfurt» (bereits seit 1858 für Natur- und Tierschutz aktiv!) ihre Ziele. Und sie lässt Taten folgen, die Erfolge zu verzeichnen haben für Umwelt, Tier und Mensch in einer Zeit, in der die Herausforderungen geradezu grenzenlos erscheinen: Noch nie gab es so viele Menschen, noch nie wurden die Lebensräume so grundlegend verändert. Und während die Prognosen zum Bevölkerungswachstum, zum Verlust artenreicher Ökosysteme und den Veränderungen des Weltklimas auf eine Verschärfung der Probleme hindeuten, versuchen engagierte Menschen durch kluge Strategie gangbare Wege durchs Labyrinth der Herausforderungen zu finden. Einer davon ist der Biologe und Geschäftsführer der «Zoologischen Gesellschaft Frankfurt», Dr. Christof Schenck, der schon als Kind wusste, dass sein Leben nur mit Tieren denkbar ist.

Maria A. Kafitz | Lieber Herr Schenck, Sie sind seit 2000 Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF), die sich seit vielen Jahrzehnten weltweit leidenschaftlich für den Naturschutz einsetzt. Wann begann denn diese Leidenschaft bei Ihnen?
Christof Schenck | Bei mir persönlich kann ich das sogar ziemlich genau auf das Jahr festlegen – mit zehn Jahren habe ich eigentlich schon gewusst: Ich will Biologe werden. Ich hatte zwar nur eine diffuse Vorstellung davon, was eigentlich ein Biologe ist, aber schon immer ein Faible für Tiere. Ich bin am Schwarzwaldrand aufgewachsen, und wir hatten stets Tiere zu Hause – Haustiere, aber auch Wildtiere, die wir gefunden und gepflegt haben. Von daher gab es von Anfang an einen Bezug zu diesem Thema.

MAK | Was Sie als Kind schon wussten, nämlich dass Naturschutz und Tiere wesentlich sind, ist für viele Kinder heute bedauer­licherweise kaum noch erlebbar. Wie schafft man es dennoch, junge Menschen dafür zu sensibilisieren?
CS | Das wird leider immer schwieriger. Viele Kinder, vor allem auch hier in Deutschland, wachsen in urbanen Gebieten auf, wo es sehr wenig Tier- und Natur­kontakt gibt, nicht einmal Kontakt zu unseren Nutztieren, wie das früher in den ländlichen Regionen üblich war. Sie erleben relativ wenige Haustiere, Wildtiere quasi gar nicht. Deswegen kann man eigentlich immer nur an die Eltern appellieren, an die Schulen, an die Bezugs­personen der Kinder: Nehmt sie mit hinaus! Geht mit ihnen raus, lasst sie Tiere beobachten – das können Insekten sein, Amphibien, Reptilien oder Vögel. Es gibt ja hier noch einiges zu sehen – auch in Deutschland. Ein Waldspaziergang ist zwar kein Wildnisabenteuer, aber eine tolle Möglichkeit, Natur selbst zu erleben. Das ist ganz, ganz wichtig.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

MAK | Im Zug von Stuttgart nach Frankfurt habe ich mich beim Blick aus dem Fenster in die doch recht zugebaute, dicht besiedelte Landschaft gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis auf dieser Strecke wieder Wildnis entstünde, wenn der Mensch sich zurückzieht. Was glauben Sie?
CS | Das ist sehr unterschiedlich, es kommt auf die Ökosysteme an und darauf, wo wir uns auf diesem Planeten befinden. Hier in Mitteleuropa – also auch zwischen Stuttgart und Frankfurt – haben wir recht gute Voraussetzungen dafür, dass es schnell und auch vollständig geht, weil wir relativ wenige Arten komplett verloren haben. Es gibt natürlich welche, die bei uns nicht mehr präsent sind, die Braunbären zum Beispiel, aber die gibt es noch in anderen Teilen Europas. Sie könnten gut wieder einwandern, so wie es in manchen Gegenden die Wölfe auch gerade tun.
Lassen Sie es mich so erklären: Es sind immer Eiszeiten über Europa gegangen, und dadurch, dass wir diesen Ost-West-Riegel der Alpen hatten, sind viele Tiere und Pflanzen im Prinzip gefangen gewesen in diesem Klimawandel und dann ausgestorben. Das heißt, wir haben hier relativ wenige Arten, aber diese sind sehr robust. Ganz anders in der Tropenzone: Dort haben wir sehr, sehr viele Arten. Anhand von Bäumen lässt sich das gut verdeutlichen: Ein naturnaher Wald in Mitteleuropa hat 20 bis 25 Arten; auf einem Hektar im Manú-Nationalpark in Peru finden wir dagegen 270 Baumarten – das ist eine ganz andere Dimension. Und wir wissen auch, dass solch komplexe Systeme wie Regenwälder oder Korallenriffe, wenn sie großflächig zerstört werden, unglaublich lange brauchen, um sich zu regenerieren. Da sprechen wir nicht nur über ein paar 10.000 oder 100.000 Jahre, sondern über Millionen. Das müssen wir uns klarmachen: Was wir mit dieser Erde tun, hat in großen Teilen Auswirkungen auf eine nicht ab­sehbare Zukunft. Und auch wenn wir das in Mitteleuropa etwas relaxter sehen können, so bleibt auch hier die Umweltzerstörung nie folgenlos – auch nicht die, die wir fern von hier mitverantworten.

MAK | Die ZGF hat neben vielen Projekten in Afrika, Asien und Südamerika auch ein bemerkenswertes «Wildnis-Projekt» in Deutschland ins Leben gerufen. Was hat es damit auf sich?
CS | Ja, wir haben vor gut 20 Jahren be­gonnen, mit verschiedenen Partnern eine Stiftung aufzusetzen, die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, die ehemalige Übungsplätze der russischen Armee aufgekauft hat und diese Gebiete nun sich selbst entwickeln lässt. Echte Wildnis sozusagen. Es wird so wenig eingegriffen wie möglich, es gibt große Jagdruhezonen auf vielen Tausenden von Hektar. Die Stiftung hat jetzt über 13.000 ha im Eigenbesitz. Ich kann Ihnen sagen: superspannend, was da passiert! Es ist so anders als alles, was wir uns vorgestellt haben. Die Wälder sind viel dynamischer. Wir hatten schon Sorge, dass da sehr ein­tönige Kiefernwälder entstehen, aber es bilden sich durch das Zusammenspiel von Insekten, Bränden, Windwürfen etc. viel­fältige Waldbilder! Was wir uns vor 20 Jahren gar nicht erträumt hatten, ist die Tatsache, dass die Wölfe wieder präsent sein werden. Das ging viel schneller, als wir gedacht haben. 20 Jahre sind ja nur ein Wimpernschlag in der biologischen Entwicklung! Wir sehen aber auch bei manchen Flächen, zum Beispiel den Offensandflächen, wo sehr viel Panzerbetrieb war und der Boden sehr verdichtet ist, dass es da ganz langsam geht. Dort wächst ein bisschen Silbergrasflur, aber sonst ist seither noch nicht viel passiert. Die Dynamik ist sehr unterschiedlich, und es ist überaus spannend, das mitzuverfolgen.

MAK | «Wildnis» verbinden wir sonst eher nicht mit Deutschland, sondern vielmehr mit dem fernen Regenwald, den noch kaum ein Touristen­fuß betreten hat. Ist da eine Veränderung innerhalb des Naturschutzes zu
bemerken?
CS | Absolut. Vor 20 Jahren war «Wildnis in Mitteleuropa» kein Thema. Naturschutz war Kulturlandschaftsschutz. Aber Wildnis, Öko­systeme wirklich selbst laufen zu lassen, das war kein Gedanke. Anders in Nordamerika, wo dieser Wildnisansatz herkommt. Mittlerweile wurde er jedoch sogar von der Bundesregierung aufgenommen; in der «nationalen Bio­diversitäts­strategie» hat sie sich in ihr eigenes Stammbuch geschrieben, dass zwei Prozent der Landesflächen in Deutschland Wildnis sein sollen. Zwei Prozent – da sagt man: Ach, eines der reichsten Länder der Welt, das ist nicht so viel, aber wir wissen natürlich auch: Wir sind dicht besiedelt, wir haben nicht so viel Platz. Zwei Prozent ist in einem solchen Land schon relativ viel, vor allem, wenn man weiß, dass wir gerade bei vielleicht 0,6 Prozent sind, d.h. wir brauchen noch ein paar 100.000 Hektar Wildnis, wir brauchen noch ein paar neue Nationalparks. Das kriegen wir auch hin, aber wir müssen gemeinsam daran arbeiten.

MAK | Sie haben gerade ein Wort benutzt, das wir oft im Zusammenhang mit Naturschutz hören, aber das die wenigsten wirklich verstehen: «Biodiversität». Können Sie diesen Begriff für uns mit Leben füllen?
CS | Unbedingt, das ist mir ein starkes An­liegen. Es ist ein Kunstbegriff – selbst unsere Biologenkollegen verstehen darunter nicht immer das Gleiche. Mit «Biodiversität», auf Deutsch «biologische Vielfalt», will man das Leben auf dieser Erde in seiner Mannig­faltigkeit beschreiben. Hierbei unterscheiden wir drei Ebenen:
Die erste Ebene ist die Vielfalt der Gene. Wenn wir uns jetzt anschauen: Wir sind beide Homo sapiens, und trotzdem unterscheiden wir uns deutlich. Wenn ich nach unserem Gespräch den Flur entlanggehe, werde ich weitere Exemplare der Gattung Homo sapiens sehen, die wiederum anders sind. Also eine relativ hohe Vielfalt an Genen, d.h., es reicht nicht, wie Noah mit seiner Arche, ein Paar von einer Art zu nehmen, denn das wäre nur ein Bruchteil der genetischen Informationen.
Die zweite Ebene ist die Vielfalt der Arten. Darunter kann sich jeder noch etwas vor­stellen. Ich weiß, ein Zebra ist eine Art, eine Kastanie ist eine Art. Aber auch da haben wir große Wissens­defizite, wir kennen nämlich heute ungefähr zwei Millionen Arten, aber wir gehen davon aus, dass es vielleicht sechs, acht oder sogar zehn Millionen Arten gibt. Den großen Teil kennen wir also noch gar nicht, und es sterben viele aus, bevor wir sie überhaupt gekannt haben.
Die dritte Ebene ? da wird es dann richtig kompliziert ? ist die Vielfalt der Öko­systeme, weil die Arten ja zusammen agieren und sich auch zusammen weiterentwickeln, denn nichts ist statisch in der Natur.
Diese drei Ebenen – Vielfalt der Gene, der Arten und der Ökosysteme ?, das zu­sammen ist die «Biodiversität», die «biologische Vielfalt» oder einfach: das Leben auf dieser Erde. Und wir als Art, die diesen Planeten inzwischen sehr stark dominiert und auch mitgestaltet, tun einfach sehr gut daran, auf diese biologische Vielfalt zu achten und sie zu schützen, weil sie auch unsere Lebensgrundlage ist. Als Zoologische Gesellschaft Frankfurt bemühen wir uns genau darum, denn ohne bio­logische Vielfalt können wir alle nicht existieren, wir sind ein Teil davon.