Claus-Peter Lieckfeld (Text) & Christian Kaiser (Fotos)

Die Zukunftsfinderin

Nr 203 | November 2016

«Stadt der 100 Brücken» nennt sich Kalbe an der Milde. Das 2800 Seelen-Städtchen in der Altmark, nördliches SachsenAnhalt, liegt eine halbe Autostunde von Stendal im Südosten und von Salzwedel im Nordwesten entfernt. Also im Abseits. Und ehe man das mit den «100 Brücken» für die übliche Reiseführer-Lyrik hält – was nennt sich nicht alles «Venedig des Nordens»? –, sollte man nachzählen ... und dann eine kleine Weile verblüfft schweigen.
Exakt sind es 103 Brücken! Davon sind die meisten Stege. Sie verbinden das Umland mit dem historischen Stadtkern und dessen fast noch geschlossenen Straßenzügen im Stil der barocken Acker­bürgerhäuser des 18. Jahrhunderts. Etliche Stege sind nur «so breit, dass man gerade mal ein Rind hinter sich herziehen konnte, wenn man es aus den Sumpfwiesen in die schützenden Stadtmauern holen wollte», sagt Corinna Köbele.
Brücken faszinieren die 53-Jährige: als schwebende Baukörper, aber mehr noch als Metaphern – als «Sinnbilder fürs Überbrücken» all dessen, was als unüberwindbar gilt.
Unüberwindbar schien hier vor allem eines: der Verfall. Davon gibt es viel in der Kleinststadt, deren Fassaden meist trist-grau vor sich hin krümeln. Viele Bürger kehrten dem Ort nach der Wende den Rücken und sehr viele etwas später, als sich abzeichnete, dass die Geldströme des «Aufbaus Ost» hier nur vorbeiplätscherten.

Die kleine, zerbrechlich wirkende Frau (Foto oben) ist nicht die Lokal­historikerin der über tausendjährigen Gemeinde – oder richtiger: sie ist es nur dort, wo sich das Alte als Ausgangspunkt für «Zukunfts­finder» eignet. Das nämlich – Zukunftsfinderin – ist die Diplom-Psychologin, Therapeutin und bildende Künstlerin, die seit zwanzig Jahren in Kalbe lebt. Eine, die zureiste und blieb.
Und das kam so: Vor vier Jahren, im August 2012, sagte sie sich: «Corinna, dieser Stadt schaust du nicht länger beim Sterben zu! Also weggehen, fort in eine Stadt mit hoher Künstlerdichte? Oder bleiben und womöglich Künstler nach Kalbe holen ?» Das war die Frage. «Kunst als soziale Bewegung … da müsste doch was gehen.»
Wenn es stimmt, dass am Anfang das Wort war, dann war Köbeles innerer Quo-vadis-Monolog der Anfang der «Künstlerstadt Kalbe». Und es war ein mühseliges und anfangs auch ein einsames Beginnen. Gelingen konnte es überhaupt nur deshalb, erinnert sich Corinna Köbele, weil «ich als gestandene ‹Irrenärztin› nicht von vornherein für irre erklärt werden konnte an den Stamm- und Ratstischen. Und weil ich den ungeheuren Luxus der Leere bemerkt hatte.»
Dieser Luxus – wahrlich keiner, der ins Auge sticht – bestand und besteht aus verlassenen Räumen. Von dieser Leere ist die Altstadt voll. Die Zimmer, Mansarden, Flure, Hallen mit Leben zu füllen war der Nucleus ihrer Idee.
Und die Idee ging auf: Es kamen Kunststudenten als Stipendiaten aus allen Weltgegenden, aus Russland, Korea, Lateinamerika und natürlich aus allen deutschen Kunstmetropolen. In Kalbe malten, bildhauerten, tanzten, musizierten sie und schlugen wunderbar über alle Stränge. Jetzt schon vier Sommer lang und zudem im Rahmen eines Winter-Campus.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de) Durch die Bildgalerie geht's per Klick auf die Klammern

Das eigentlich Verwunderliche daran ist, dass das Projekt Künstlerstadt – ganz im Sinne des Beuysschen Kunstbegriffs – über sich hinauswuchs: In Kalbe fand sich für jeden ausländischen Künstler ein ortsansässiger Kunstpate. Der ehemalige Lehrer Bernd Möller zum Beispiel half einem jungen chinesischen Foto­künstler, indem er Berührungsängste Kalbenser Bürger sanft aus dem Weg redete; der Student konnte die «Eingeborenen» schließlich mit großer Plattenkamera bei der Arbeit ablichten. Die pensionierte Lehrerin Sigrid Fricke war, als es im Ort mit der Kunst losging, eigentlich nur zu der Gründungs­versammlung des Vereins gekommen, um für die Räume Gardinen zu spendieren, damals noch nicht einmal entmodert und entrümpelt waren. «Ich fand mich als Kunst-Ermög­licherin an allen Ecken und Enden der Stadt wieder», erinnert sie sich.
Einige Kalbenser Hausbesitzer boten kostenlose Nutzung leerstehender Räume und Häuser an. Wo modelliert wird, modert es nicht. Wo etwas entsteht, zerfällt nichts. Das alte Gerichtsgebäude, inwendig noch verklebt und vergraut von vier Jahrzehnten SED-Tristesse, wurde gelüftet und geliftet: Es sollte im Parterre ein Kunst-Café geben, und die Räume sollten zu Herzkammern der Künstlerstadt werden.
A propos Raum – es gibt kaum Leerraum in Kalbe, für den Corinna Köbele und die Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht auch künftig Entwicklungs- und Nutzungsperspektiven in petto hätten. Der Eiskeller einer stillgelegten Brauerei zum Beispiel böte einen fantastischen Klangraum. Corinna hat es ausprobiert. Aber ehe hier gesungen und musiziert werden kann, ist noch viel Klinkenputzen und «Money Talk» angesagt.

Etliche nackte Wände rufen laut nach Grafitti-Kunst. Auf die Rufe gab es schon hier und da ein buntes Echo. Und warum nicht demnächst einem Weltklasse-Sprayer ein Kalbe-Stipendium ermöglichen? Und wenn die Gäste bunt, schön und jung sind – und das sind sie –, umarmt man sie sogar. Die blauen Blumen-Arabes­ken, von Katrin Parotat an die Außenseite des Freibads drapiert, werden geliebt. Justyna Janetzeks kleine Marmor­treppe, die eine alte Steintreppe zum Gerichtsgebäude hinaufläuft, wird beschmunzelt und bestaunt: Reisebusse hielten schon davor an: ein Treppenwitz erzählt Geschichte. Und der Kunst­automat gegenüber (für vier Euro kann man originale Kleinkunstwerke ziehen!) wird genutzt: für den kleinen Kulturhunger zwischendurch.
Der Kalbenser als solcher hat keine Kunst-Schwellenangst mehr: Eine erste Galerie – da, wo die Gerichtsstraße zur Ernst-Thälmann-Straße abknickt – zeigte im Herbst 2015 Werke von Martin Binder, einem Jungkünstlers aus Einbek, der auf Birken-Sperrholz diverse Birken-Impressionen appliziert: Bäume im Selbstporträt. Magie des Materials. Material für Magie.
Freie Kunst hin oder her – Fakt bleibt, dass Kunst vor allem Arbeit ist beziehungsweise Arbeit voraussetzt. Corinna Köbeles Ehrenamt (häufig: Spenden- und Fördertöpfe finden, öffnen und pflegen) ist zum Vollzeitjob geworden. Auf ihrem Kühlschrank stehen Preise und Auszeichnungen in Reihe. Einen Ehrenplatz im öffentlichen Raum gibt es dafür noch nicht …
• 11/2013: «Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen 2013/14» verliehen vom Land der Ideen, eine Initiative der Bundesregierung und der Deutschen Wirtschaft
• 3/2014: Zukunftsdenkerpreis «Leuchtturm der Tourismuswirtschaft» des Ostdeutschen Sparkassenverbandes
• 7/2014: «Anstifter-Preis» der Altmärkischen Bürgerstiftung der Hansestadt Stendal
• 7/2014: «Unser Dorf hat Zukunft»-Sonderpreis
• 10/2014: «Demografie-Preis» des Landes Sachsen-Anhalt
• 9/2015: Ausgewähltes Projekt bei «Baukultur konkret» des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­sicherheit
• 10/2015: «Anstifter-Preis» der Altmärkischen Bürgerstiftung der Hansestadt Stendal.

Inzwischen ist auch die Kulturstiftung des Bundes auf die Künstler­stadt aufmerksam geworden und will sie im Rahmen der Förderung «Fonds Neuer Länder» preiskrönen. Um diesen «Oscar unter den Kunstförderpreisen» (Köbele) gewinnen zu können, muss allerdings auch die Stadt etwas in den Hut werfen – so die Vorgabe der Kulturstiftung. Aber weil die Kommune bettelarm und fast ohne Gewerbesteuer-Einnahmen ist, könnte es in diesem Fall – so die Hoffnung – genügen, Räume der Stadt für eine künftige Kultur­pädagogin bereit­zustellen. Der hierfür notwendige Stadtratsbeschluss fiel mit 15 zu 2 Stimmen für die Künstlerstadt!
«Sagenhaft», sagt Corinna Köbele. Vom künftigen Arbeitsplatz der «ersten bezahlten Vollkraft» auf dem Gelände des Freibades ist es nur ein Katzensprung zum «Garten der Nationen», wo Flüchtlinge und andere Bürger von Kunst und Kultur ihrer Heimat erzählen können. Menschen aus inzwischen 17 Nationen leben, gärtnern und grillen hier zusammen.
Kultur der Heimat, das war in Kalbe bis 1989 meist das, was die SED als bekömmlich erachtete und als Einheitsgericht anrühren ließ. Dergleichen geschah häufig in einem riesigen ockerfarbenen Kasten, dem Kulturhaus, das heute eine Bibliothek und eine Einrichtung für Seniorenbetreuung be­herbergt.
Corinna Köbele hat Vorstellungen, wie man den 450-Sitze-Theatersaal – «mit einem Orchester­graben, in dem man ein komplettes Wagner-Orchester versenken kann» – zum Erklingen bringen könnte.
Könnte oder kann? Für eine positive Antwort auf diese Frage sieht Gemeinde-Bürgermeister Karsten Ruth kaum Chancen, denn das hieße, dass Kalbes größte Liegenschaft sich in absehbarer Zeit selbst tragen könnte. Aber, so räumt er mit einem lächelnden Seiten­blick Richtung Corinna Köbele ein, fast alles, was die Initiative «Künstlerstadt Kalbe» bisher an Positivem in Bewegung gesetzt hat, hätte er zuvor für unmöglich gehalten.