Brigitte Werner

Baumfreunde

Nr 203 | November 2016

Immer schon waren es die Bäume gewesen, die mich getröstet haben. Man hat es mir noch nie geglaubt, aber ich kann mich erinnern, dass ich in einem Kinderwagen lag und geschoben wurde. Und ich schaute von unten in das Laub einer dichten Allee. Ich erinnere mich an die zitternden goldgrünen Flecken hoch über mir, an das Tanzen der Blätter mit ihren Lichträndern und ihrem Geflirre und das Wohlgefühl, welches ich empfand. Ich erinnere mich dermaßen intensiv, dass ich nicht glauben kann, wenn man mir einreden will, dass die Erinnerung so weit nicht zurückreicht.
Immer wieder sind es die Bäume, die mir in seelischen Notlagen helfen. Noch heute. Ich habe sie in meinem allerersten Meditationsversuch gesehen – mächtig, wiegend, lauschend und sprechend. In einer vor Trauer fast nicht zu bewältigenden Phase meines Lebens schlich ich mich sogar nachts in den Garten, den ersten Garten, den ich hatte, mit vielen wunderbaren alten Robinien, die verwunschene Schattenplätze in einem kochenden Sommer auf die verblichene Wiese warfen, die den Kummer kleiner wiegten und mir Geschichten erzählten in fremden, WindRegenWolkenLichtWorten, die ich alle verstand. Aber nachts war es immer die alte Kastanie, der ich entgegenlief, ohne Angst in der verlassenen Gegend dieses Hauses ohne Zaun, ohne Schutz. Angst war nicht anwesend. Nur die eindringliche Präsenz des Schmerzes und die Präsenz der Bäume in der Dunkelheit. Ich drückte mich an die rauhe Rinde ihres Stammes, der hatte auch glatte, samtweiche Stellen. Und dort war diese magische Kuhle. Ich hatte beim ersten Mal das sehr genaue Gefühl, dass mein Kopf, nein, meine Stirn, dort hing­eführt wurde, sanft hineingedrückt – die Vertiefung war so passgenau, dass es mich hätte verwundern sollen.
Aber das tat es nicht. Bäume können so was. Sie wissen es einfach. So einfach ist das. Legte ich meine Arme um den Stamm, sie kamen nicht ganz herum, und legte ich meine Stirn in die Mulde, die eine milde Kühle hatte, so geschah etwas Seltsames. Etwas sehr Erstaunliches, das mich aber nicht erstaunte. Sondern eher eine Art kostbare Erinnerung war. Ich fand ein Gefühl wieder, das ich verloren geglaubt hatte. Ein tiefer Frieden, eine wohltuende Leere, eine wissende Gelassenheit, dass alles stimmt – alles ist richtig, alles ist so, wie es sein soll, sogar ich bin richtig, was ich stets und immer bezweifle, aber jetzt nicht. Ich weiß, dass alles gut ist. Ja, auch ich. Auch mein Schmerz.
Ich bin jede Nacht, wenn der Kummer zu einem undurchdringlichen Dornengestrüpp hochwuchs oder ein tiefes, schwarzes Brunnenloch wurde, das mich hineinrief und verschlingen würde, zu dieser Kastanie gegangen, der Sommerregen rann manchmal an mir herunter, aber das Blätterdach hielt ihn lange zurück, bis ich wieder in diesen Frieden sinken konnte, der mein Herz kräftigte und heilte. – Ja, Heilung geschah. Ich spürte es in jeder Zelle.

Als Kind wuchs ich ohne Garten auf. Unser Hof, umrundet von den freudlosen Mietshäusern, hatte Wäschestangen auf einer sauber gemähten Rasenfläche mit ein paar staubigen Büschen drumherum. Aber keinen Baum. Wenn es tatsächlich einmal vorkam, dass ich allein zu Hause war, schnappte ich meinen Roller, später mein Fahrrad, und fuhr los. Ich packte noch mein Lieblingsbuch ein, einen Apfel vielleicht und suchte auf dem Friedhof eine ganze Anzahl von Straßen weiter meinen Lieblingsort. Eine verwitterte Holzbank mit verschlungenen Mustern in ihrer Maserung, in der ich Bilder entdeckte und zu Geschichten zusammenfügte. Sie wurde beschirmt von einer mächtigen alten Linde, die ich liebte, die mir ihren Zauber schenkte, ihren Trost, ihren Duft und ihre Schönheit. Ich kletterte mühelos hoch in ihr Blattgewirr, sie streckte schon die Äste nach mir aus, die Platz machten für meinen grünen, geheimen Schutzort, der mich umhüllte und unsichtbar machte für alle Schrecken meiner Kindheit. Ich saß unten auf der Bank nah ihren knorrigen Wurzeln und wohnte gleichzeitig oben in ihren Armen.
Am meisten verzauberte mich das Licht in meiner Baumwohnung. Und das Rauschen, das Flüstern, die schwankenden, wiegenden Bewegungen des Baumes, das Selbst­verständnis seines Baumseins. Immer konnte ich dann auch das Selbstverständliche meines Ich-Seins spüren. Mein kleiner, magerer Körper war eine pralle, sonnenwarme Frucht, ein schläfriges, junges Tierchen, das gut behütet in einer versteckten Höhle zusammengerollt dem Leben vertraute, eine wandernde Wolke, die über einen weiten, blauen Himmel zog in der Gemeinschaft und im Gespräch mit ihren Schwester-Wolken.
Später, als ich begonnen hatte, Geschichten ganz bewusst zu erfinden, zu erträumen, sogar aufzuschreiben, waren immer Bäume die wichtigsten Begleiter, ich erschuf die spekta­kulärsten Baumhäuser mit farbenprächtigen, üppigen Kissen und ganzen Büchertürmen, umschlungen von Zweigen mit Nestern und kleinen Vögeln, die darin wohnten und mir alles über die ferne weite Welt erzählten. Später hatte ich oft die Qual der Wahl zwischen einem Hausboot, natürlich an einem Ufer unter dem hohen Blätterdach exotischer Bäume ankernd, oder meinem Baumhaus, das ich inzwischen ohne Mühe nach dem Schließen der Augen in allen Einzelheiten sehen und empfinden, riechen und spüren konnte, selbst mitten in dem verhassten Unter­richt der verhassten Lehrerin, selbst wenn ich wegen einer Unachtsamkeit zu Hause Schläge bekam.

Bäume und Vögel sind auch in meinen nächtlichen Träumen sehr starke Symbole. Tauchen sie im Traumgeschehen auf, weiß ich immer, dass mein unlösbares Problem dabei ist, sich zu entknoten. Denke ich über schwierige Situationen nach, fühle ich Kummer oder Angst oder quälende Selbstzweifel, so gehe ich an meine besonderen Baum-Orte – aber schon auf dem Weg dorthin kann es sein, dass mich ein Vogel begleitet, plötzlich anfängt zu singen, sogar nachts oder im Winter, und mich eine Weile umschwirrt.
Und nun habe ich endlich, endlich einen Baum gepflanzt. Ohne meinen Ver­mieter zu fragen. Ohne überhaupt jemanden zu fragen. Ich tat es einfach. Ich fand ihn im Garten­center, und er wollte mit. Nun kann ich ihn vom Schreibtisch aus sehen. Im Wind zittern seine Blätter. Er winkt. Selbst durch das Fenster können wir uns hören, wenn wir es brauchen. Ich brauche es oft.