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Erna Sassen

Das hier ist kein Tagebuch

Nr 203 | November 2016

gelesen von Simone Lambert

Der schwarze Einband ist ein klares Statement. Es lautet: Ver­weigerung. Vor uns liegen die Aufzeichnungen des 16-jährigen Boudewijn. Bou geht nicht mehr zur Schule, er isst nicht, schläft nicht, redet nicht, geht nicht vor die Tür, will nichts, außer im Bett liegen. Der Vater zwingt ihn, Tagebuch zu schreiben und Musik zu hören, sonst würde er ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen. Er knallt ihm einen Stapel CDs vor die Füße: Arvo Pärt, Rachmaninow, Prokofieff, Pergolesi – Klänge, die Bous Gefühlen Raum verschaffen. Bous innerer Monolog erzählt uns die grausame Geschichte, die hinter ihm liegt, und seine eigene, die sich langsam entwickelt.
Mit fünfjähriger Verspätung trauert Bou um seine manisch-depressive Mutter, die Selbstmord beging. Noch immer erlebt er die Verunsicherung und Bedrohung, die ihre Krankheit begleitete. Wut und Hass, Angst und Scham bestimmen die Erinnerung an sie. Nach und nach erzählt er unkommentiert auch Dinge, die seine Liebe bezeugen: wie sie lachte, als sie seinen Schulaufsatz über die Harfenistin las, die sich beim Spiel die Schulter ausgekugelt hatte. Wie sie ihm durch die Schwierig­keiten seiner ersten Grundschulliebe half.
Mit seiner Offenheit nimmt Boudewijn für sich ein. Schlicht, lakonisch und intensiv berichtet er von seinen Gefühlen. Knapp und genau sind seine Worte und treffen den Leser mitten ins Herz. Und trotz seiner Trauer ist er zu Humor fähig – einem sarkastischen, selbstironischen und, in seiner Einsamkeit, etwas verlorenen Humor.
Anders als die Ausgangssituation vermuten lässt, hat Bou in seinem Vater einen verlässlichen Freund. Auch seine Oma und die Tante sind ein echter Rückhalt. Die wichtigste Person ist für ihn seine siebenjährige Schwester Dolores, genannt Fussel. Liebevoll, zugewandt, voller Bereitschaft, es anderen recht zu machen: bei ihr setzt seine Angst aus. Für sie überwindet er sich. Und dann gesellt sich für ihn Pauline zu den vertrauenswürdigen Personen hinzu. In ihrer Gegenwart kommt er zur Ruhe «… und was ich am allerschönsten an ihr fand: Sie hatte nicht zu allem eine Meinung.» Mit ihr kann er sogar über seine Mutter sprechen, ohne Hass zu verspüren. Als Pauline ihm zu verstehen gibt, dass sie mit ihm schlafen möchte, gerät er in Panik und wird verletzend.
Der Leser wird Zeuge, wie Bou sich schrittweise aus seiner Depression herausbewegt. Seine erste Liebe ist verflochten mit dem Abschied von der Mutter und dieser mit dem Stabat Mater Dolorosa von Pergolesi. Der Prozess schließt mit seinem Wunsch, den Schmerz der Mutter, ihre Angst vor dem Leben und vor dem Tod nachzuvollziehen und auf sich zu nehmen: «Oh du Mutter, Brunn der Liebe, mich erfüllt mit gleichem Triebe, dass ich fühl die Schmerzen dein.» Kunstvoll sind Erzählzeit und erzählte Zeit ineinander verschränkt und werden eins, als Bou sich Pauline wieder annähert.
Es ist ein berührendes Buch, zu beweglich, zu überraschend, um ihm mit der Diagnose «Depression» einen Themenstempel aufzudrücken. Einen Platz in der Welt müsse er sich erobern, sagt der Vater zu Boudewijn – dieser tut er mit Hilfe des Tagebuchs. Das Schreiben schafft Raum, es heilt und führt in die Gegenwart.
Ein großartiges Buch, das zu Recht zweifach für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde. Un­bedingt lesen!