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Jelle van der Meulen

Bernard Lievegoeds Vermächtnis

Nr 203 | November 2016

Bernard Lievegoed rang mit der Frage, welchen positiven Beitrag er vor seinem Tod (am 12. Dezember 1992) noch liefern könnte. Im Juni 1992 rief er mich an und erklärte, dass es ihm schlecht gehe – und er fragte, ob ich bitte so bald wie möglich bei ihm vorbeikommen könne? Einige Tage später, am 30. Juni, suchte ich ihn auf. Jedes Detail dieses Besuchs steht deutlichst in meiner Erinnerung eingeschrieben.
Bernard Lievegoed informierte mich ausführlich über seinen Gesundheitszustand und berichtete von der Operation, die er hinter sich hatte. Seine Haltung machte einen starken Eindruck auf mich: Er empfand überhaupt kein Selbstmitleid und klagte nicht. Er beschrieb seine Verfassung in nüchternem Ton, offensichtlich wollte er, dass ich mir ein klares Bild machte.
Geduldig ging er auf meine Laienfragen ein und sagte schließlich, mit einem jungenhaften Lächeln: «Das Verbleiben in einem physischen Leib kann auch seine weniger angenehmen Seiten haben!» Danach machten wir uns an die Arbeit. Er teilte mir mit, dass er eine Antwort auf seine drängenden Fragen gefunden habe.
«Nach meiner Operation», sagte er, «hat sich mir ein Vorhang geöffnet. Du musst mir helfen, ein Buch zu schreiben.» Und in der nächsten Stunde skizzierte er den geplanten Inhalt dieses Buches. Es handelte sich im Wesentlichen um Folgendes: Wenn die anthroposophische Bewegung in geistiger Hinsicht zu einer Einheit kommen will, so muss daran gearbeitet werden, dass ein Verständnis für die spezifischen geistigen Aufgaben der verschiedenen Tochterbewegungen, Institutionen und Persönlichkeiten entsteht. Die internen Reibungen würden erst dann ein Ende nehmen, wenn eine gegenseitige, ehrlich empfundene Bewunderung für die Arbeit der anderen aufkäme, wobei unterschiedliche Auffassungen keinen Anlass für Spannungen bilden, sondern vielmehr zu einer «sozialen Harmonie» führen sollten. Das wirkliche Verständnis für den Auftrag des anderen – das war es, was Lievegoed am Herzen lag.
Zuerst wollte Bernard Lievegoed den Inhalt des Buches auf Kassette sprechen und mir diese zusenden. Weil er selbst nicht mehr schreiben konnte, sollte ich dann einen lesbaren Text daraus machen. Doch während des Sommers schaffte er das, wegen seiner Krankheit, nicht. Er fand einfach nicht die Kraft, sich zu konzentrieren. Als sich sein Zustand im Oktober weiter verschlechterte und er befürchten musste, dass das Ganze ein bloßer Plan bleiben würde, rief er mich wieder an und schlug eine andere Arbeitsweise vor: Ich sollte jeden Tag eine halbe Stunde an sein Krankenbett kommen. Durch meine Anwesenheit würde er die Kraft finden, die Arbeit durchzuführen.
Und so geschah es denn auch. In einer Periode von weniger als drei Wochen habe ich ihn insgesamt zehnmal besucht.
Während der ersten Sitzungen wurde das Buch in seiner Gänze «erzählt». Immer, wenn ich sein Zimmer betrat, lag er völlig bereit in seinem Bett, den Gehörapparat im Ohr, das Notizbuch auf­geschlagen auf der Bettdecke. Er wusste jedes Mal genau, was er vorhatte. – Es folgte eine Überraschung nach der anderen. Die wohl größte bestand darin, dass er den ersten Tag mit kurzen Charakterisierungen der Menschen beschloss, die nach seinem Empfinden einen Beitrag zu den Inhalten des Buches geleistet hatten. Er versammelte gleichsam seine Freunde um sich, bevor er anfing: Ich glaube, er betrachtete sie in gewisser Weise als Mit-Autoren.
Die zweite Überraschung bestand darin, dass er über alle ihm bekannten Inkarnationen der drei Menschheitsführer sprach, von denen das Buch handelt.
Schließlich kam die Überraschung des letzten Kapitels, das die vielsagende Überschrift «Die Strategie der Gegenmächte» trägt. Strategie, Geisteskampf, Schlachtfeld, Gegenmächte – diese Begriffe bestimmen stark die Tonart des letzten Kapitels, ja eigentlich des ganzen Buches. Lievegoed war auch eine Kämpfernatur; er dachte in Begriffen wie Angriff und Gegenzug. Niemals werde ich das Paradoxe dieser Situation vergessen: Physisch war Lievegoed extrem geschwächt, doch geistig war er unantastbar geworden. Nichts konnte ihm mehr etwas anhaben. Und man möchte hoffen, dass etwas von dieser geistigen Unbeirrbarkeit auf dem Weg über sein Buch auch in die anthroposophische Bewegung einfließen wird.