Brigitte Werner

Vor Kurzem war ich noch jung

Nr 205 | Januar 2017

Es war wie bei diesem klassischen Tango aus der offenen Tür in Köln in diesem Gedicht von Rolf-Dieter Brinkmann: Man geht durch eine vertraute Straße, und plötzlich ist da eine Irritation, die das Herz stocken lässt und einen aus dem Takt bringt, aus dem Takt der Schritte vielleicht, aus dem unablässigen Geplauder der Gedanken beim Dahinschlendern, dem Rauschen des Verkehrs oder der Bäume, dem Singsang der Kinder und ihrer Mütter, der vom Spielplatz herüberhüpft wie die bunten Bälle, denen die überdrehten Hunde hinterherjagen. Ich bleibe stehen.
Rechts von mir ist das verstaubte Schaufenster eines altertümlichen Plattenladens, hier häufen sich vergilbte Schallplattenhüllen und anderer Kram, der mich nie interessiert hat. Alles ist irgendwie aus einer vergangenen Zeit, die auch schon Staub angesetzt hat und in der ich jung war, mit einem tragbaren Plattenspieler für die heimlichen Treffs im Park, was viele Batterien gekostet hat – viel Lärm um nichts mit den Jungs und viel Lärm um alles mit den Eltern. Was hat mich stocken lassen?
Im Schaufenster hängt ein großes Plakat mit dem wilden Kopf des wilden, noch jungen Mikis Theodorakis. Ich staune ihn an. Mein Gott, ich hatte vergessen, wie sehr er damals Teil meines Lebens gewesen ist. Wir hatten ihn nachts im Park immer dabei, wir sangen lauthals mit, irgendjemand hatte immer eine Flasche Retsina aufgetrieben. Er als Widerstandskämpfer ging mit uns auf alle Demos, er ließ uns unendliche Kreise Sirtaki tanzen und Alexis Sorbas lieben. Und ich weiß noch sehr genau, wie ich nach einem heftigen Herzgewitter sehr allein auf meinen vielen Kissen in meiner ersten Wohnung auf dem Boden saß, es muss Winter gewesen sein, ich spüre noch die warme Heizung im
Rücken, an die ich mich gelehnt hatte, weil ich vor Kummer fröstelte und immer wieder aufstand, um die Platte erneut zu hören.
Und dann geschah etwas, was mich noch Jahre begleiten sollte, immer wieder, wenn Kunst mein Herz intensiv berührt, sei es Malerei, Musik, Literatur – ich erkannte mit großer Klarheit und fast schon schmerzhaft, dass ich ihn liebte. Ja, ich liebte Theodorakis plötzlich mit tiefer Innigkeit, weil er mir diese Musik schenkte. Ich hatte keine Ahnung, welche Macken und Unmöglichkeiten er als Mensch hat, mit denen ich vielleicht gar nicht leben könnte, aber ich liebte ihn für diese Musik. Das geht mir selbst bei Brecht so, wenn ich den Galilei lese oder einige seiner überraschend zarten Liebesgedichte. Obwohl ich weiß, dass er ein richtiger Macho gewesen ist, manchmal auch Ideen klaute und nicht immer ein Menschenfreund war. – Die Kunst macht das wohl wett, jedenfalls in dem Moment, wo sie das Herz erschauern lässt und wir eine Ahnung bekommen, dass sie eine Kraft ist, die weit über die Realität hinausgeht und eine zweite, köstliche erschaffen kann.
Ich eile nach Hause. Natürlich habe ich keine einzige der Schallplatten mehr. Und natürlich auch keinen Plattenspieler. Aber ich finde nach langem Suchen in meiner grandiosen CD-Unordnung das Album, das ich schon ewig nicht mehr gehört habe. Theodorakis ist ein alter Mann, übergewichtig, stark ergraut, die Stimme erschöpft und etwas atemlos. Die wilde Mähne ist immer noch wild, und mit seinem türkischen Kollegen singt er live gemeinsam alte und neue Lieder. Lieder, die die alte Feindschaft zwischen Griechenland und der Türkei aufweichen sollen. Im Publikum strecken sich Hände nach dem Frieden aus, nach Verständigung. Die Presse berichtete von vielen Umarmungen. Die Musik ist eindringlich, ich höre sehr deutlich, wie die Stimme von Theodorakis stärker wird. Mit jedem Lied wächst sie über den Bühnenrand hinaus ins Publikum, das zu toben beginnt. Als der Sirtaki von Alexis Sorbas beginnt, hält mich nichts mehr, ich springe auf, ich tanze wild und gefährlich, denn ohne den Halt der anderen Arme im Kreis wird das Drehen geradezu tollkühn, aber ich liebe das Tanzen, tanzen machte mich immer schon überaus lebendig und frei. Ja, frei.
Und atemlos.
Da, genau da passiert es wieder: Eine bedingungslose Liebe fällt mit Kawumm in mein Herz, ich heule wie eine dumme alte Kuh. Und bin fassungslos. Und gerade 20, vielleicht auch jünger. Und voller Dankbarkeit, dass es wehtut.