Henning Kullak-Ublick

Lesen lernen

Nr 206 | Februar 2017

Geheimnisvolle Zeichen

Sonntagmorgen, ein erster Sonnenstrahl stibitzt sich durch den Vorhang – die Eltern schlafen noch und Lara sitzt auf ihrem Bett. Hingegeben blättert sie sich durch die Wunderwelt ihres großen Liederbuches, Seite um Seite singt sie, mal laut, mal leise, jede Nuance und jedes Wort genau so, wie sie es «schon immer» gehört und selbst gesungen hat. Lara ist vier Jahre alt – und sie kann lesen. Keine Buchstaben zwar, aber jedes Bild steht für ein Lied und für noch viel mehr innere Bilder, die beim Singen an ihr vorübergezogen sind.
Lesen beginnt nicht mit Buchstaben, sondern mit den Ohren. Lara weiß ganz genau, wie die Lieder und Geschichten in ihren Büchern klingen, lange bevor sie den Buchstaben Laute zuordnen kann. Kinder hören ja schon im Mutterleib die Stimme ihrer Mutter. Von dort bis zum Lesen ist es ein ziemlich weiter Weg. Aber ob der durch eine lebendige und farbenfrohe Landschaft oder durch eine öde Wüste führt, trägt entscheidend dazu bei, ob das Lesen einmal ein Fenster öffnet, durch das wir die Welt und uns selbst immer wieder neu entdecken, oder ob es bloß zum Durchreichen dürrer Informationen taugt.
Vom ersten Lebenstag an lernte Lara ihre «Mutter»-Sprache, mit Versen, Liedern, beim Gespräch der Eltern. Als sie größer wurde, hörte sie Geschichten von den Enten auf dem Teich, von den Schneeflocken, die vom Himmel tanzen, oder vom Häschen, das mit seiner Mama unter dem großen, großen Baum wohnt. Irgendwann kamen die Bilderbücher dazu, aus denen Mama oder Papa ihr vorlasen. Mit ihnen begann im Grunde Laras «Medienerziehung», denn auf einmal traten die Geschichten aus Bildern und geheimnisvollen Zeichen hervor, die man immer wiederfinden konnte.

Als Lara in die Schule kam, verwandelten sich die Worte auf einmal in lauter zusammengesetzte Einzeltöne, die man zeichnen konnte und Buchstaben nannte. Die lebendige Sprache, die bisher immer vom Mund zum Ohr und von da über das Herz zum Verstehen gelangt war, wurde in Einzelteile zerlegt, die mit dem Sinn der Worte überhaupt nichts zu tun hatten – wie Puzzleteile eines Bildes, von dem man gar nicht weiß, wie es am Ende aussehen soll. Das ist übrigens einer der Gründe, warum die Kinder an einer Waldorfschule die Buchstaben beim Schreibenlernen immer aus einer Geschichte oder einer kunstvoll gezeichneten Form heraus entstehen lassen: Ihre Fantasie hilft ihnen, aus den Einzelteilen wieder ein Ganzes zu machen.
Beim Schreiben ist Lara immer voll dabei, denn sie muss ihrer Hand sagen, was sie zu tun hat. Dabei weiß sie schon vorher, um welchen Laut es sich handelt. Beim Lesen muss sie aus all den vielen Buchstaben, die fertig vor ihr liegen, auf einmal Laute bilden und sie so zusammenfügen, dass sie wieder ein ge­sprochenes Wort, einen ganzen Satz oder sogar einen zusammenhängenden Text ergeben. Daher ist es sinnvoll, wenn die Kinder das Lesen zunächst an ihren selbst geschriebenen Texten üben, denn wenn jedes Wort und jeder Buchstabe vorher von ihnen gestaltet wurden, haben sie schon eine Beziehung zu ihnen, die nicht nur über den Kopf geht. Je mehr Zeit sie für die liebevolle, ja künstlerische Gestaltung hatten, umso besser.
Natürlich gibt es Kinder, die sich das Lesen schon viel früher selbst beigebracht haben, weil sie sich das meist bei ihren älteren Geschwistern abschauen konnten. Lennart hatte schon im Alter von vier Jahren dicke Bücher verschlungen – sie mussten allerdings von Vögeln handeln. Mit elf Jahren wusste er mehr über Vögel als die meisten erwachsenen Hobby-Ornithologen. Umso größer die Überraschung der Mutter, als der gerade frisch eingeschulte Erstklässler Lennart eines Tages strahlend nach Hause kam und verkündete, er habe heute das «R» gelernt.
Als sie sagte, das könne er doch schon seit Jahren lesen, ant­wortete er: «Ja, aber heute habe ich es persönlich kennengelernt!» Die Kraft der Fantasie hatte ihm noch einen weiteren Zugang zum Schreiben erschlossen.

Nach einer Studie der Universität Hamburg gab es unter den Erwachsenen in Deutschland 2011 zwei Millionen totale Analphabeten und weitere 7,5 Millionen sogenannte «funktionale Analphabeten», also Menschen, die zwar ihren Namen schreiben und beim Lesen die Buchstaben richtig zusammenfügen können, aber den Sinn des Gelesenen nicht verstehen.
Diese Statistik kann leicht zum Kurzschluss verleiten, man müsse eben noch viel früher damit beginnen, das Schreiben und Lesen zu pauken. Schaut man jedoch genauer hin, ist es genau andersherum: Wir sollten den Kindern lieber die Zeit schenken, sich auf die Verwandlung vom gesprochenen zum geschriebenen, zum gelesenen, zum gedachten Wort mit ihrem ganzen Wesen – also auch mit ihrer Kreativität und Fantasie – einzulassen. Der Glaube, es handle sich beim Schreiben und Lesen um Techniken, die man ohne Rücksicht auf die individuelle Entwicklung der Kinder einprogrammieren könne, ist genauso falsch, wie es falsch wäre, sie vom Lesen fernzuhalten, wenn sie es längst wollen.
Einer meiner Schüler begann trotz aller Bemühungen seiner Eltern und Lehrer erst in der fünften Klasse mit dem Schreiben und Lesen. Der Junge war hochintelligent, aber seine Zeit war noch nicht gekommen. Erst eine Erzählung vom Zug Alexander des Großen in den Orient brachte ihn dazu, sich gleich mehrere Bücher dazu auszuleihen und einen langen, druckreifen Aufsatz zu schreiben. Später studierte er übrigens Germanistik und Geschichte.

Lesebücher habe ich in meinen Klassen zur Vermeidung von Langeweile nie ver­wendet, aber die Kinder lasen sich gegenseitig vor, was sie selbst geschrieben oder irgendwo als vorlesewürdig entdeckt hatten. Einmal pro Woche erzählte ein Kind von dem Buch, das es gerade las, und danach konnten die anderen es in der Klassenbibliothek ausleihen. Ganz nebenbei lernten sich die Kinder dabei als «Literaturkritiker» kennen, eine Fähigkeit, die sie später bis zur Quellenkritik ausbauten.
Kinder sind klein, aber nicht dumm. Sie brauchen Bücher, die spannend, humorvoll, liebevoll und kindgerecht, aber auf keinen Fall kindisch sind. Aktives Lesen ist eine notwendige Voraussetzung für eine umfassende Medienerziehung, weil sich nur daran das Unterscheidungsvermögen entwickeln kann, das für die sinnvolle Nutzung der digitalen Medien gebraucht wird. Nicht ohne Grund schicken viele Topmanager aus dem Silicon Valley ihre Kinder auf die einzige Schule im «Valley», bei der Tablets und Laptops vor dem fünften Schuljahr tabu sind.
Lesen lernen Kinder am besten, wenn sie von einer Sprache umgeben sind, in deren Worten Wahrheit, Schönheit und Güte erlebbar sind. Dann erschließt sich dem Kind auch die Form, durch die sie sich vermittelt, viel leichter, denn das Kind weiß ganz von selbst: Es lohnt sich, lesen zu lernen!