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Michael Stehle

Wenn die Liebe Leben rettet

Nr 206 | Februar 2017

Man muss nicht weit schauen, um in unserer Zeit Flüchtlingsschicksalen zu begegnen. Jeder Einzelne ist gefordert, wenn es um die Frage geht, ob man Menschen helfen kann, die aus Kriegsgebieten den Weg nach Deutschland angetreten haben. Derzeit stehen bei uns Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und verschiedenen nordafrikanischen Ländern im Mittelpunkt. Doch natürlich betrifft dies nicht nur Deutschland.
Angesichts der gesellschaftlichen Schwierigkeiten vergessen wir manchmal, dass das Thema weder neu ist, noch sich auf Europa beschränkt. Laut UNHCR waren im Jahr 2016 weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht.
Die amerikanische Autorin Cecilia Samartin gehört zu den Menschen, die selbst die Erfahrung einer Flucht gemacht haben. 1961 geboren, floh sie als kleines Kind mit ihren Eltern aus dem krisengeschüttelten Kuba in die USA. Nach dem Studium der Psychologie arbeitete sie als Therapeutin und konnte so vielen Menschen helfen, die nach der Flucht aus Süd- und Mittelamerika unter traumatischen Belastungs­störungen litten.
In ihrem Roman Nicht die Nacht allein beschreibt Cecilia Samartin das Leben der aus El Salvador nach Kalifornien geflüchteten Ana. Nachdem eine Ordensschwester ihr geholfen hatte, das vom Bürgerkrieg erschütterte Land zu verlassen, fasst Ana den Entschluss, selbst anderen helfen zu wollen und dem Beispiel der verehrten Ordensfrau zu folgen. Ehe sie aber das endgültige Gelübde leistet, wird ihr empfohlen, das Leben kennen­zulernen: Man vermittelt ihr eine Stelle als Kinder­mädchen in einer wohlhabenden Familie.
Hier zeigt sich schnell, dass sie mit ihrer Positivität und liebe­vollen Art die Herzen der beiden Kinder erobern kann. Auch für die Eltern bedeutet sie einen Segen – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Während Lillian Trellis, die Dame des Hauses, beeindruckt ist und es genießt, sich wieder verstärkt auf ihr Leben in der High Society konzentrieren zu können, spürt ihr Mann Adam, dass mit Ana ein sehr ungewöhnlicher Mensch den Weg in die Familie gefunden hat – ihre liebe­volle Art lässt ihn schmerzlich entdecken, was ihm im Leben fehlt. Als seine Frau sich immer häufiger mit anderen Männern trifft, bekennen Adam Trellis und Ana einander ihre Liebe.
«‹Ana›, sagte er und nahm meine Hand. ‹Als meine Eltern ums Leben kamen, ist mit ihnen die Liebe in diesem Haus gestorben. Doch als du kamst, hast du sie zurückgebracht und mein Haus zu einem echten Zuhause gemacht. Vielleicht brauchst du dieses Haus nicht, aber dieses Haus braucht dich. Ich kann dir nicht richtig erklären, warum oder wie, aber ich weiß, dass es für mich das Richtige ist.›»
Ana ist klug und gefühlvoll genug, um allen, die in die neue Situation verstrickt sind, aufzuzeigen, welche Wege gegangen werden können, um eine Tragödie zu vermeiden. Auch den Kindern kann sie nach anfänglichen Turbulenzen begreiflich machen, dass beide Eltern sie nach wie vor lieben. Da sie darum weiß, wie wichtig es ist, in allen Entscheidungen bei sich selbst zu bleiben und die «Golddeckung» der Liebe nie aus den Augen zu verlieren, ist es ihr möglich, allem zu begegnen, was ihr an Feindseligkeit und Hass entgegengebracht wird. Mehr noch: Es gelingt ihr, allen beteiligten Personen dazu zu verhelfen, die richtigen Schritte in ein neues Leben zu gehen.

Cecilia Samartin weiß, was es bedeutet, in einem Land zu leben, das nicht ihre Heimat ist. Mit ihrer Hauptperson Ana hat sie einen Charakter geschaffen, der vielen Menschen in schwierigen Zeiten Vorbild sein und Halt vermitteln kann.