Jean-Claude Lin

Haiku

Nr 207 | März 2017

Die Kunst des Heimkehrens

Hin und wieder frage ich mich am Ende eines Tages, was ich inmitten all meines Tuns und Trachtens an Wesentlichem und Bleibendem erlebt habe. Oft schäme ich mich, wenn mir nichts Überzeugendes einfallen will: Alles war irgendwie notwendig und manches war gut, aber nichts davon will wesentlich genug erscheinen, um als Bleibendes hervorgehoben zu werden. Dann kann es geschehen, dass etwas zunächst Unscheinbares und Kleines sich hervortut als etwas, dem doch Dauer innewohnt. Manchmal ist es auch möglich, einen solchen Moment mit einem Haiku auszudrücken.
Einmal in Bologna, anlässlich der alljährlich stattfindenden internationalen Kinderbuchmesse, saß ich in einem Lokal, um nach den vielen Gesprächen eines erfüllten Messetages zu Abend zu essen. Ich saß an einem Tisch – ohne Gesellschaft. Das tat ich von Jahr zu Jahr des Öfteren. Doch üblich ist das unter den vielen von überallher angereisten Verlegerinnen und Verlegern, Lektoren und Literaturagenten, Lizenzverkäufern, Kinderbuchillustratoren, Presseleuten und sonstigen Besuchern nicht. Ich saß also alleine – in etwas gedämpfter, wenn nicht gar betrübter Stimmung. Irgendwann an diesem Frühlingsabend hob ich den Kopf aus meinem Trübsinn und blickte um mich: Ich war nicht allein in diesem Lokal; sechs andere saßen ebenfalls zu Tisch; es waren allesamt Männer; und jeder saß für sich allein. Ich musste schmunzeln. Mich dünkte, die gleiche Szenerie mit Frauen statt Männern wäre unmöglich. So hielt ich inne und den Augenblick fest.

Trattoria Danio
sieben Männer an Tischen
alleine

Ich war mit meinem Abend, ja mit meinem Leben versöhnt: In dieser Fremde fühlte ich mich wie nach Hause gekommen.

Einmal klagte der berühmteste aller Haiku-Dichter, Basho, bitterlich über sein selbst-gewähltes Schicksal als wandernder Dichter, obwohl er bereits einen wachsenden Kreis an Schülern und Verehrern um sich geschart hatte: «Ich fühle mich einsam, wenn ich den Mond anschaue. Ich fühle mich einsam, wenn ich über mich nachdenke, und ich fühle mich einsam, wenn ich mich auf mein armseliges Leben besinne. Ich möchte aufschreien, wie einsam ich bin, aber niemand fragt mich, wie es mir geht.»
So schrieb er im 17. Jahrhundert als Vorspann zu einem seiner kleinen Gedichte, die im Rhythmus von 5 – 7 – 5 japanischen Laut-Einheiten und einem Jahreszeiten-Bezug von ihm die Weihe erhielten, bevor sie viele Jahre nach seinem Tod im Jahr 1694 Haiku genannt wurden. Die amerikanische Haiku-Dichterin und Herausgeberin Jane Reichhold erwähnt dies in ihrer überaus verdienstvollen Ausgabe seiner sämtlichen Haiku in Basho The Complete Haiku, die 2008 in Japan und 2013 in den USA bei Kodansha erschien. Traurigkeit und Einsamkeit kommen öfter in seinen Haiku zum Ausdruck, aber einmal sehr explizit:

uki ware o
sabishigara seyo
kankodori

was Jane Reichhold auf Englisch wie folgt übersetzt:

already sad
now make me lonely too
mountain cuckoo

und das auf Deutsch vielleicht so wiedergegeben werden kann:

Traurig bin ich
lass mich einsam sein
Bergkuckuck

Was hier mit «einsam» übersetzt wurde, sabi, erhielt bei Basho und unter seinen Schülern und Nachfolgern eine ganz besondere, schwer wiederzugebende Bedeutung. Der «Theoretiker» der Basho-Schule, Mukai Kyorai erklärte dazu: «Sabi ist die Farbe eines Gedichtes. Es bezieht sich nicht unbedingt auf ein Gedicht, das Einsamkeit beschreibt. Wenn ein Mann in prächtiger Rüstung in den Krieg zieht oder auf einem Fest farbenfroh gekleidet erscheint und er zudem älter ist, dann hat er etwas Einsames an sich. Sabi ist so etwas.» Und später gab Nobuyuki Yuasa sabi eine weitere Erläuterung: Es sei «das Ineinanderfließen des Zeitlichen mit dem Ewigen, des Unermesslichen, Unendlichen, aus dem ein Urgefühl von Einsamkeit entsteht, das alle Dinge dieser Welt teilen» (hier nach Jane Reichhold, Basho The Complete Haiku, wiedergegeben).

Eines der berühmtesten Haiku Bashos, in dem er gleichzeitig das übliche Schema 5 – 7 – 5 auf 5 – 9 – 5 «Silben» erweitert, könnte als unendlich melancholisch empfunden werden:

kareeda ni
karasu no tomari keri
aki no kure

Auf einen kahlen Ast
hat sich eine Krähe gesetzt
Abend im Herbst

Doch lesend kann man miterleben, wie sich für Basho bereits beim Verfassen und Mitteilen dieses Haiku die zunächst als quälend empfundene Melancholie erhellt und erheitert.
Am Ende ihres Buches Welch eine Stille! über die Haiku-Lehre des Takahama Kyoshi, das im Hamburger Haiku Verlag erschien, zitiert die Dichterin Inahata Teiko eine bedeutungsvolle Äußerung ihres Großvaters: «In welcher Armut ich auch leben mag, wie sehr ich auch an Krankheit leide, kann ich die Härte des Lebens, das Leiden der Krankheit doch vergessen, sobald ich einmal mein Herz der Natur, den Blumen und Vögeln, dem Wind und dem Mond zuwende. So fühlt sich mein Herz in diesem Augenblick paradiesisch, wenn auch nur für einen Augenblick. Darum nenne ich das Haiku eine ‹paradiesische Dichtung› (gokuraku no bungaku). Aus solcher Dichtung schöpfe ich Trost, Erquickung, geistige Nahrung und letztlich Kraft zum Leben!».
Zu solcher Dichtung fühlte sich Basho zeitlebens auf dem Wege. Immer wieder ging er auf Wanderschaft. An einem 11. Tag des 10. Monats, «wenn die Götter abwesend sind», der dem 15. November des Jahres 1687 entspricht, zog er wie ein vom Wind verwehtes Blatt unter ungewissem Himmel dahin. Für seine Freunde und Schüler notierte er:

tabibito to
waga na yobare n
hatsushigure

Wanderer
soll mein Name sein
erste Winterschauer

So prägte er das Haiku als eine Kunst des Unterwegsseienden, der überall sich ein Zuhause schaffen kann, als Ausdruck eines gelebten Existenzialismus.