Walther Streffer

Lesen im Buch der Natur

Nr 208 | April 2017

Nach einer Forderung der mittelalterlichen Philosophie ist es für den Menschen von größter Bedeutung, geistig im «Buche der Natur» lesen zu lernen.
Naturvorgänge zu beachten und den Jahreskreislauf mitzuer­leben bedeutet, beim «Lesen im Buch der Natur» nicht nur den Seh­sinn zu benutzen, sondern die Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen und sie in all ihren Erscheinungen verstehen zu wollen. Sowohl die wissenschaftliche Gründlichkeit als auch die achtsame liebevolle Zuwendung sind dabei Wege der Erkenntnis, so wie sie Goethe in seiner Naturanschauung ausgebildet hat. Dazu gehört auch, ein tieferes Verständnis für die tönende Umwelt zu entwickeln, zumal der menschliche Sehsinn im Vergleich zum Hörsinn in der Regel eine größere Bedeutung hat. Am Beispiel des Vogelgesangs möchte ich einige Entwicklungsstufen des Hörens aufzeigen. Als Einstimmung mag gelten, die Ohren für jegliche Geräusche in der Natur zu öffnen.
Die Lautäußerungen der Vögel wecken in uns unterschiedliche Empfindungen – je nachdem, ob ein Buntspecht kraftvoll an einem Baumstamm hämmert oder ob sich zwei Weißstörche mit lautem Schnabelklappern begrüßen. Diese markanten Geräusche werden mechanisch erzeugt und als Instrumentallaute bezeichnet. Die meisten Vogellaute werden jedoch mithilfe des Atemstroms hervorgebracht und sind dadurch beseelte Laute. Sie lassen sich vereinfachend in zwei Gruppen einteilen: 1. in angeborene Laute (z. B. Lockrufe, Stimm­fühlungslaute, Bettellaute der Jungvögel und fast alle Warnrufe); 2. in Gesänge, die zum allergrößten Teil von den männlichen Singvögeln gelernt werden müssen.

Ein wichtiger Schritt, um sich die Klangwelt der Singvögel zu erschließen, ist für uns das Kennenlernen der arteigenen Gesänge, wobei charakteristische Merkmale zu beachten sind: Manche Gesänge sind einfach (Zilpzalp), andere komplex (Garten­rotschwanz), viele Gesänge sind kurz (Gartenbaumläufer), einige dagegen recht lang (Zaunkönig). Zahlreiche Gesänge haben rhythmischen Charakter (Kohlmeise), andere sind melodisch (Amsel, Heidelerche), und der Nachtigallengesang zeichnet sich sowohl durch Melodie als auch durch Rhythmus aus.
Unser Gemüt wird entsprechend angesprochen. Wichtig ist, dass wir einerseits immer mehr vom Hören zum Lauschen gelangen, andererseits innerlich mitsingen lernen. Bei gleichzeitiger Beobachtung von Verhaltensweisen und morphologischen Kennzeichen bleiben uns so die Gesangsstrophen der verschiedenen Arten besser im Gedächtnis. Schwierigkeiten können uns jene Singvögel bereiten, die fremde Vogelstimmen imitieren. Bei ihnen reicht es nicht mehr, sich bestimmte Klangfolgen und Motive zu merken, wir müssen uns verstärkt in den Farbklang einer Stimme einhören. So lässt sich meistens die Nachahmung vom Original unterscheiden.*
Sobald wir eine gewisse Sicherheit im Bestimmen der Arten gewonnen haben, beginnen wir den Gesang der einen Art mit dem der anderen Art zu vergleichen. Es ist ratsam, das innerhalb einer Gattung zu tun, also etwa die Gesänge der mitteleuro­päischen Drosseln (Amsel, Singdrossel, Misteldrossel, Wacholder- und Ringdrossel). Auf diese Weise werden wir die einzelnen Artgesänge sicherer erkennen und auch das Typische der Drossel­gesänge erfassen. Im Lauf der Zeit stellen wir fest, dass die komplexen Gesänge einzelner Meistersänger außerordentlich variationsreich vorgetragen werden. Wir können sie dennoch sicher bestimmen, weil wir uns nicht mehr nur die Melodie oder die Rhythmusabfolge eines Vogelliedes einprägen, sondern zunehmend auf die Klangfarbe achten.

Hier beginnt der Prozess, sich verstärkt auch den einzelnen Individuen zuzuwenden, das heißt die Gesänge mehrerer Männchen derselben Art miteinander zu vergleichen. Nach und nach wird uns bewusst, dass auch die einfachen oder bisher als stereotyp empfundenen Gesänge recht verschieden sind. Staunend stellen wir zum ersten Mal fest, dass fast kein Buchfink so singt wie der andere. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es in Deutschland fast so viele Gesangsvariationen gibt wie Buchfinken-Individuen. Es bedarf einer weiteren Schulung unseres Gehörs, um eine Art Dialog mit den Vogelindividuen zu beginnen.
Dazu gehört auch, die unterschiedliche Emotionalität in den Gesängen wahrzunehmen. Sobald sich etwa zwei Reviernachbarn an der Reviergrenze gesanglich streiten, so ist im Vergleich zum entspannten Gesang wahrzunehmen, dass die Gesänge oft lauter, kürzer und motivärmer vorgetragen werden und sich die Kontrahenten in die Strophen fallen. Hier werden nicht im Sinne eines Anthropomorphismus den Tieren menschliche Gefühle übergestülpt, sondern es sind vielmehr Phänomene, die mit dem menschlichen Seelenleben nah verwandt sind.
Wir müssen allerdings mit der Tatsache leben, dass das menschliche Gehör nur einen Teil dessen aufzulösen vermag, was ein Singvogel in wenigen Sekunden gesanglich vorträgt. Deshalb ist es unabdingbar, das wahr­nehmende Hören stetig zu verfeinern. Es besteht heute zwar die Möglichkeit, mithilfe von Sonagramm und Tonmikroskopie die Vogelgesänge wissenschaftlich zu analy­sieren. Aber wie kann der Vogelfreund schneller hören lernen? Oder wie können wir als hörende Menschen zeitliche Abläufe sowohl dehnen als auch qualitativ anders erleben?

Zahlreiche Menschen wachen morgens manch­mal mit einem umfassenden Traumbild auf, das sich beim Übergang ins Wachbewusstsein zu einer längeren Geschichte ausweiten kann. Und Musikfreunde kennen das Phänomen, dass eine beliebte und entsprechend bekannte Melodie – über das Zeitliche hinaus – wie ein Klangbild wahrgenommen werden kann. Der zeitliche Prozess verdichtet sich gewissermaßen zu etwas Räumlichem.
Etwas Verwandtes ist zu bemerken, wenn uns verschiedene Singvogelgesänge vertraut geworden sind. Bereits beim ersten Ton einer vorgetragenen Strophe entsteht so ein inneres Klangbild des ganzen Vogelliedes, das wir dann mit der hörbaren Stimme vergleichen können. Auf diese Weise wird zur Erfahrung, wie unterschiedlich die individuellen Gesänge innerhalb einer Art sind und wie variationsreich ferner die Strophen desselben Sängers im Tageslauf sein können.
Dieses subjektive Erleben erscheint mir eine objektive Methode zu sein, die mit Sinnesübung, Empathie und lebendigem akustischem Vorstellungsvermögen zu tun hat, wobei die innere Klangfigur auch als dynamische akustische Typusgestalt bezeichnet werden kann.
Zumindest erscheint es mir einer der vielen Wege zu sein, im Buche der Natur lesen zu lernen.