Philip Kovce

Schlüsselfragen

Nr 209 | Mai 2017

Lesen in den Zeichen der Zeit

Wer kennt sie nicht, die Situation, in der eine einzige Frage alles in ein neues Licht rückt. Da spricht jemand etwas aus, das viele schon bemerkten, aber keiner sich zu fragen traute – oder etwas, das zuvor tatsächlich unsichtbar gewesen ist, wird plötzlich sichtbar, weil eine Frage darauf deutet. Gute Fragen werfen Licht ins Dunkel – und das Dunkel kann überall sein: zu Hause am Küchentisch, im Klassenzimmer, vor einem Gemälde, auf Reisen, beim Spaziergang zu zweit. Gute Fragen sind Schlüsselfragen. Sie schließen uns das Buch des Lebens auf und ermöglichen es uns, darin zu lesen.
Wer in den Zeichen der Zeit lesen will, der hat nach den Schlüsselfragen der Gegenwart zu suchen. Er hat also jene Fragen zu finden, die Licht ins Dunkel der Gegenwart bringen.

Eine dieser Fragen könnte lauten: Was würden Sie tun, wenn alle anderen für Sie arbeiten? Auf den ersten Blick mag diese Frage irritieren: Wie bitte? Ich bin doch nicht aller anderen Chef. Von wegen!
Es arbeiten überhaupt nicht alle für mich, sondern vor allem viele gegen mich! Auf den zweiten Blick verweist diese Frage auf einen Zusammenhang, der bestimmender nicht sein könnte und dennoch kaum richtig wahrgenommen wird: dass wir uns nämlich seit Beginn der Arbeitsteilung darauf spezialisieren, nicht mehr für uns selbst, sondern für andere zu arbeiten – ganz egal, wie selbstbezogen wir dabei agieren. Der Bäcker backt die Brötchen nicht für sich, der Banker investiert nicht für sich, der Lehrer unterrichtet nicht für sich – das, was wir tun, tun wir für andere. Im Guten wie im Schlechten.
Dass wir nicht für uns selbst, sondern für andere tätig sind, übersehen wir deshalb so leicht, weil wir auf ein eigenes Einkommen angewiesen sind. Ein eigenes Einkommen ermöglicht uns, für andere tätig zu werden sowie Güter und Dienstleistungen anderer in Anspruch zu nehmen. Der strukturelle Altruismus der Arbeitsteilung und der strukturelle Egoismus des Einkommenskampfes stehen sich oft unvermittelt gegenüber. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte dabei helfen, sie zu vermitteln, indem es der eigenen Einkommensnotwendigkeit die Not nimmt – und damit den Blick dafür frei werden lässt, was die anderen tatsächlich von mir benötigen.

Eine weitere Schlüsselfrage der Gegenwart könnte lauten: Wer bestimmt, wenn jeder selbst bestimmt? Auf den ersten Blick regen sich auch hier Gegenfragen: Wer bitte schön bestimmt sich denn tatsächlich selbst? Ich fühle mich doch schon ziemlich ohnmächtig und weiß nicht einmal genau, was ich will! Von der Selbstbestimmung aller kann also gar keine Rede sein! Auf den zweiten Blick offenbart diese Frage nichts weniger als die Grundlage jeder modernen Demokratie: dass es nämlich der einzelne Bürger ist, der als Souverän gefragt ist. Was auch immer Wissenschaftler und Experten, Unternehmer und Berater von sich geben, sie sind nicht als solche, sondern als Bürger unter Bürgern gefragt, wenn es darum geht, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Demokratie lässt sich ohne den souveränen Bürger gar nicht denken!
Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt merkt in seinem Buch Partizipation – Das Prinzip der Politik an: «Tatsächlich hat nur ein selbstbestimmtes Wesen die Souveränität, sich vertreten zu lassen. Souverän ist der Bürger, der sich aus Einsicht in die Tatsache, dass er ohnehin nicht alles selbst bestimmen oder gar selbst ausführen kann, einer Vertretung anvertraut. Ohne dieses Vertrauen ist Politik nicht möglich.»
Dem ist zuzustimmen: Ja, souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt. Aber nur unter einer Bedingung: dass er dabei ein selbstbestimmtes Wesen bleibt! Es ist also gerade jener Bürger souverän, der die Vertretung jederzeit selbstbestimmt beenden oder erneuern kann. Das ermöglicht die direkte Demokratie, indem sie das letzte Wort den souveränen Bürgern überlässt. Genau das führt dazu, dass sie es gar nicht so oft gebrauchen müssen. Es führt im Gegenteil dazu, dass die Bürger sich wirklich vertreten und die Vertreter sich wirklich beauftragt fühlen. Das ist das offenbare Vertrauens­geheimnis der direkten Demokratie.

Eine dritte Schlüsselfrage der Gegenwart lässt sich aus einer Bemerkung des Aufklärungs­philosophen Jean-Jacques Rousseau ableiten: «Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern darin, dass er nicht tun muss, was er nicht will.» Kurzum: Wie frei sind wir, wenn wir niemanden mehr zwingen? Die Widerrede lautet an dieser Stelle: Aber wir zwingen doch schon längst niemanden mehr! Jeder kann seine Persönlichkeit frei entfalten – und dass man sich an Gesetze halten muss, ist doch kein Zwang, der die Freiheit einschränkt, sondern einer, der sie erst ermöglicht! Wie frei sollen wir denn noch werden, ehe wir wirklich frei sind?
Bei genauerem Hinsehen stellt sich freilich heraus, dass wir jene Selbstbestimmung, die wir uns selbst zugestehen, den anderen oftmals vorenthalten wollen; dass wir jene Freiheit, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen, den anderen oftmals nicht gewähren wollen. Das führt dazu, dass wir auch überall dort alles regeln und ordnen, wo Regeln und Ordnung nur aus Freiheit heraus entstehen können. Der Akkreditierungs- und Evaluierungswahn dieser Tage beruht darauf, dass wir der Freiheit der anderen misstrauen. Dabei benötigen wir das Vertrauen in die Freiheit der anderen unbedingt, denn je weniger es vorhanden ist, desto unmenschlicher werden die zwischenmenschlichen Beziehungen. Freie Kindergärten, freie Schulen, freie Hochschulen sind eine Voraussetzung dafür, dass wir aus Freiheit heraus gestalten und nicht aus Unfreiheit heraus Dienst nach Vorschrift leisten.

Und wohin führen diese Schlüsselfragen nun? Vielleicht gehört es zum Signum der Gegenwart, dass sie so viele Schlüsselfragen zulässt, wie es Menschen gibt, die sie stellen. Und ganz sicher gehört es zum Wesen der Schlüsselfragen, dass sie einen besser verstehen lassen, was ist – und ebenfalls, was war und werden wird. Schlüsselfragen schenken Zeitverständnis. Schlüsselfragen öffnen uns die Augen für die Zeichen der Zeit. Was an der Zeit ist, das können wir nur erfahren, wenn wir Schlüsselfragen stellen, und die Antworten, die wir darauf geben, sind bestimmt und lassen uns frei. Denn die Gestaltung der Zukunft erfolgt immer unter bestimmten Bedingungen. Doch die Gestaltung selbst ist immer eine freie Tat.