Marie-Thérèse Schins

Sinnliches Lesen

Nr 210 | Juni 2017

Zu Büchern habe ich ein inniges, ich wage sogar zu behaupten, ein sinnliches Verhältnis. Seitdem ich denken kann. Seitdem ich lesen kann. Und vor allem nach dem Lesen eines bestimmten Buches, das ich mit neun Jahren entdeckte. Der Geruch von einem neuen, aufgeklappten Buch, in dem die Seiten knistern, der Leim im Buchrücken duftet und gleichzeitig leise knirscht, berauscht mich regelrecht.
Die sanfte Stimme meiner Mutter, wenn sie damals abends am Kamin im Wohnzimmer für uns zehn Kinder vorlas, löst in mir immer noch Glücksgefühle aus. Sie brachte mich dazu, so schnell wie möglich selbst lesen zu wollen. Ganz allein in Buchstaben schwimmen zu dürfen, war mein Ziel.
Im Alter von drei Jahren ging ich an der Hand meines um ein Jahr älteren Bruders von Montag bis Samstag in eine Ganztags-Montessori-Schule. Dort standen Holzbrettchen in einem Regal, auf denen Buchstaben aus Sandpapier geklebt waren. Genau die hatten es mir angetan. Ich wusste, dass aus diesen aufregenden Zeichen ganze Wörter und daraus Sätze entstanden, die es auf den Seiten unserer Bücher in der Hausbibliothek in den Regalen neben dem Kamin gab. Meine Leidenschaft zu den Wörtern fing mit einem X an, wegen der schönen, abgerundeten Form in Schreibschrift. Der Zeigefinger zog die weichen
Formen mit Wonne nach. Weitere Sandpapierbuchstaben wurden unter den Fingerkuppen lebendig, und bald bekam ich einen Bleistift und ein Stück Papier auf mein Tischchen gelegt. Endlich durfte ich diese Wunderwerke nachzeichnen! Während den kurzen Entspannungspausen, in denen eines der Fräuleins auf dem Klavier spielte und wir frei tanzen durften, schwebte ich mit der Triangel in der Hand selig und ausgelassen über den Fußboden, weil ich ahnte, einer Sache auf der Spur zu sein, die sich bald lösen würde! Es dauerte nicht mehr lange, bis ich begriff, wie die einzelnen Zeichen zu Wörtern zusammengefügt werden konnten. Diesen Augenblick der Eroberung vergesse ich nie. Mit vier Jahren hatte ich begriffen, wie die Geheimnisse des Lesens sich für mich öffneten und ich selbst damit zaubern konnte.
Meine Brüder waren stolze Besitzer eines Filmvorführ-Apparats mit einem glänzendem Gehäuse aus schwarzem Metall, einer Duxinette, in dem einzelne, stehende Bilder auf Zelluloidstreifen in einer beleuchteten Linse per Hand weitergeschoben wurden. Im abgedunkelten Kinderzimmer erschienen auf dem aufgehängten Bettlaken diese Bilder. Eines der schwarz-weißen Bilder in Ali Baba und die vierzig Räuber zeigte Ali Baba, der ungewollt ein Zauberwort hört. In der Sprechblase dazu stand: «Sesam öffne dich!» Und im nächsten Bild: «Aha, da gibt es eine Höhle!» Der Felsen öffnete sich, und für Ali Baba in seinem Versteck und die vierzig Räuber wurden atemberaubende, glitzernde Schätze greifbar. Genau das war der magische Augenblick, in dem ich selbst diese kurzen Sätze in den Sprechblasen ohne Hilfe meiner Brüder plötzlich lesen konnte und mich wie Ali Baba fühlte, der die Schätze nur einzusammeln brauchte. Das tat auch ich mit unzähligen Büchern, die ich einfach öffnete und darin oft komplett verschwand. Bücher wurden der Mittelpunkt meines Lebens und ich für immer süchtig danach. Alles las ich, was mir in die Finger kam, auch wenn ich das meiste noch gar nicht verstand.

Mit sechs Jahren wurde ich stolze Besitzerin einer Bibliothekskarte in unserer Kleinstadt, denn eigene Bücher gab es nur am Geburtstag und zum Nikolaustag am 6. Dezember. An den beiden Tagen, an denen die Bibliothek für Kinder nur drei Stunden geöffnet war, saß ich schon eine Stunde vorher auf dem eiskalten Marmorboden vor der Tür, weil ich die neuesten Bücher er­wischen wollte. «Freihandhandbibliothek» war damals ein Fremdwort. Das hieß, dass wir Kinder nur aus einem kleinen Bücherstapel etwas aussuchen durften, und das störte mich! In meiner Praktikumszeit dort, während des Studiums für Bibliothekswesen, stellte ich den kompletten Bestand der Kinder­bibliothek sofort auf Freihand um.
Doch eines Tages hielt ich das Buch Der geheime Garten von Frances Hodgson Burnett in der Hand. Es war noch funkel­nagelneu. In unserem großen Haus, in dem zehn Kinder alle Räume rund um die Uhr in Anspruch nahmen, suchte ich mir einen stillen Ort, an dem ich ganz für mich sein konnte mit dem geheimen Garten. Irgendwo auf dem Dachboden gab es hinter einer aufgeklappten Schranktür und neben einer Wäschetruhe eine Ecke, die nicht so oft frequentiert wurde. Erwartungsvoll und mit wild klopfendem Herzen schlug ich das Buch auf, und schon der erste Satz irritierte mich: «Als Mary Lennox das Haus des Onkels erreichte, waren sich alle einig: Einem so unsympathisch wirkenden Mädchen war dort noch niemand begegnet.»
Später im Buch gab es nicht nur für Mary, sondern auch für mich ein Schlüsselerlebnis: «Mary wusste, dass sie diesen Morgen, an dem sie den Schlüssel fand und ihren geheimen Garten zum ersten Mal betrat, nie in ihrem Leben vergessen würde.» Durch diese Schicksalsgeschichte öffnete sich auch für mich eine Tür. Zum ersten Mal erlebte ich seelische und körperliche Empfindungen, wie ich sie vorher während des Lesens noch nicht mit so einer Wucht erlebt hatte. Ich las mit allen Sinnen. Manchmal tat mir das Gelesene körperlich weh. Nicht selten stockte mir der Atem. Sätze ließen mich weinen um das traurige Schicksal zweier einsamer Kinder in einem düsteren, geheimnisvollen Herrenhaus irgendwo in England. Erst durch den naturliebenden Jungen Dickon wurden sie von ihren Ängsten und Zwängen erlöst. Eine überwältigende Erfahrung, die mir Flügel gab und die später meistens nicht mehr so intensiv war.
Unseren Großonkel Jacques, bei dem wir alle Klavierunterricht hatten, besuchte ich fast jeden Tag nach der Schule. Er machte mich mit unendlicher Geduld vertraut mit Text- und Bildbänden zur niederländischen Literatur- und Kulturgeschichte. Einige der Bildbände mit seiner handgeschriebenen Widmung trösten mich, wenn ich Heimweh nach meiner Heimat habe.
«Bücher sind deine Seele», sagte eine Freundin neulich. Das stimmt, das sind sie, Nahrung für meine lesende Seele. Lesen kann ich überall: als Beifahrerin im Auto, im Bus, in U- und S-Bahnen, in Zügen, in Flugzeugen, im eigenen Bett oder in fremden Betten, am Strand, in Cafés, Restaurants, in Wartezimmern, beim Frisör. Dafür brauche ich nur raschelndes Papier zwischen den Fingern und hoffe, Worte, Sätze und Seiten zu finden, die mich wieder komplett versinken lassen ins Lesen mit allen Sinnen, so wie damals in den geheimen Garten.