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Kristien Dieltiens

Kellerkind

Nr 210 | Juni 2017

gelesen von Simone Lambert

Der eine, Michael Ostheim, ist ein Paria, geboren mit Hasenscharte. Geliebt von den Eltern, erfährt er jedoch früh Spott und Quälerei, denn sein missgebildetes Gesicht gilt den Menschen als Zeichen des Bösen. Als die Mutter nach dem Tod des Vaters einen Pfarrer heiratet, ist beider Schicksal besiegelt. Die Kälte und der Sadismus des Pfaffen werden seine Mutter umbringen und Michael zu einem rachsüchtigen Erwachsenen machen.
Der andere, dessen Lebensgeschichte die Autorin mit der ersten kapitelweise verschränkt, ist Kaspar Hauser, jener Findling, von dem man vermutet, er sei der wegen einer politischen Intrige beiseite geschaffte badische Thronfolger. Jahrelang in einen lichtlosen, niedrigen Kerker gesperrt, nahm man ihm die Bewegungsfreiheit, Bildung, persönliche Bindung und ein soziales Leben, um ihn dann sechzehnjährig auszusetzen. Alle Dokumente, die über seine Herkunft Zeugnis ablegen könnten, verschwinden. Man stellt ihn aus wie ein Tier und bringt ihn schließlich um. Sein Leben wird, vom Moment des Attentats bis zu seinem Tod drei Tage später, mit Auszügen des (fiktiven) Tagebuchs Kaspar Hausers und Erinnerungen seiner (ebenfalls fiktiven) Freundin Isolde nah an den historischen Gegebenheiten erzählt.
Eines der wenigen Kinder, die Michael helfen, begegnet ihm wieder als Major in der Schlacht, in der dieser den Soldaten erneut vor dem Tod bewahrt. Johann Hennenhofer ist eine Schicksalsgestalt für Ostheim, Retter und Dämon zugleich. In seiner Schuld stehend, übernimmt Michael gutbezahlte Spitzeldienste in Adelskreisen, aber Hennenhofers Hass wird schließlich Michaels Hoffnung auf Liebe vollständig zerstören.
Auf verschlungenen Wegen verwickeln sich Michaels und Kaspars Leben. Michael wird sich schuldig machen, Kaspar wird zu jung sterben, als sein Herz bereits gebrochen ist. Kristien Dieltiens gelingt es, Kaspars spät einsetzenden Bewusstwerdungs- und Wahrnehmungsprozess zu vermitteln, indem sie sein Tagebuch wie die Aufzeichnungen eines Kindes gestaltet, das zwischen Bild, Traum, Realität und Ich-Bewusstsein mühsam unterscheiden lernt.
Der historische Roman setzt Kaspar und Michael in eine Welt, die düster ist, streng hierarchisch, gefährlich, gewaltsam und grausam, romantisch und obszön. Heiligenverehrung, Aber­glaube und Aufklärung prägen gleichermaßen die Zeit. Leidenschaften verdunkeln das Verhältnis der Geschlechter. Kaspar wird Opfer sexueller Übergriffe derer, denen er anvertraut ist.
Kellerkind erzählt von zwei Außenseitern, die voller Sehnsucht um ihr Leben kämpfen. Der Berührungspunkt in beiden Biographien ist die Zeit, die jeder von ihnen im Keller ver­bringen muss. Zur Strafe eingesperrt, sät dies im heranwachsenden Michael Furcht und Hass, die sein Leben prägen werden. Kaspar aber ist es in seinem Versteck viel besser gegangen als auf der Welt, «wo er so viel zu leiden gehabt habe». Kaspar, der Licht und Freude spendete, verlischt. Michael, dessen Geschichte den Roman einfasst, entscheidet sich schließlich für das Leben. Er findet inneren Frieden, nachdem er dem erwachsenen Kaspar begegnet ist.
Ein kraftvoller und berührender, psychologisch über­zeugender Roman und eine eindrucksvolle Version der Kaspar-Hauser-Geschichte.