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Christian Hillengaß

Celan und Zimzum

Nr 214 | Oktober 2017

«Mit einer Grabschrift, der Todesfuge, ist er zuerst unter uns getreten, und mit sehr leuchtenden, dunklen Worten, die eine Reise bis ans Ende der Nacht machten.» So sprach einmal Ingeborg Bachmann über Paul Celan.
«Sehr leuchtende, dunkle Worte» bescheinigt die Lyrikerin dem Lyriker. Worte, die viel mehr bergen als allein das tiefe Dunkel, für das Celans Zeilen im Allgemeinen bekannt sind. Er gilt als der Dichter, in dessen Lyrik vor allem der Schmerz nachhallt, den er durch seine Erfahrungen als Jude im Holocaust erlitt, insbesondere durch die Ermordung seiner Eltern in einem Lager. Dass Celans Werk weit mehr enthält, zeigt auf eindrucksvolle Weise Rüdiger Sünner mit seinem Filmessay Gottes zerstreute Funken.
Sünner geht den spirituellen Hintergründen Celans nach und erkennt mit dem Wissen um dessen Bezüge zur jüdischen Mystik in Celan einen Lichtsucher. Zentral dabei ist die kabbalistische Erzählung Zimzum, die den Dichter faszinierte. Sie besagt, dass Gott sich zurückzog, um die freie Entwicklung der Menschen zu ermöglichen. Lediglich kleine Lichtfäden schickte er noch zu ihrer Unterstützung auf die Erde, aber die waren immer noch so stark, dass die Gefäße der Schöpfung daran zerbarsten und sich in Millionen von Splittern und Funken über die Welt verteilten. Nach dieser Katastrophe besteht die Möglichkeit einer Wiedererweckung des göttlichen Lichts auf Erden im Auffinden und Zusammensetzen dieser Splitter, die in den Dingen – selbst in den kleinsten und unscheinbarsten – eingeschlossen sind. «Ein Bild der Heilung», so Rüdiger Sünner, «das den Dichter Paul Celan tief berührte.»
Nach Martin Buber, den Celan sehr schätzte, geschieht diese Erweckung vor allem durch die Aufmerksamkeit, die man den Dingen schenkt. Nichts anderes tun Celans Gedichte durch die Fähigkeit des Dichters zur Konzentration.
In seiner Dankesrede zum Erhalt des Büchnerpreises sagte Celan: «Die Aufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu widmen versucht, sein schärferer Sinn für das Detail, für Umriss, für Struktur, für Farbe, aber auch für die ‹Zuckungen› und die ‹Andeutungen›, das alles ist, glaube ich, keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder miteifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration.» Und er fügte noch ein Wort von Nicolas Malebranche an: «Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.»
So wird auch der Ausspruch von Nelly Sachs verständlich, die einmal sagte: «Dichter sind Scherbensammler.» Die Freundin Celans, die ebenfalls dichtete, starb am Tag seiner Beerdigung. Im April 1970 hatte sich Celan – so wird vermutet – in der Seine ertränkt. Rüdiger Sünner zeichnet seinen Lebensbogen bis zu diesem tragischen Ende nach. Gewollt oder ungewollt geht er dabei ganz ähnlich vor wie ein Suchender nach dem «Zerbersten der Gefäße», indem er Bruchstücke aus Celans Leben und Werk auf der ganzen Welt zusammenträgt, sie in filmischen Bildern aufleuchten lässt und zu einem intensiven Gesamtbild zusammenfügt. So vermittelt er einleuchtend, wie Celans Dichtung für ihn «zu einem ehrlichen und aufregenden Dokument zeitge­nössischer Spiritualität» wird, die vor den Katastrophen der Geschichte nicht kapituliert, «sondern versucht im Fragmen­tarischen und Versehrten einen Rest von Leuchtkräften zu mobilisieren, der uns weiterhin mit Inspirationen versorgt.» Sünners Film macht wach für diese Inspirationen.