Christian Hillengaß

Czernowitz – Begegnungen mit Paul Celan und Rose Ausländer in einer «versunkenen» Stadt

Nr 214 | Oktober 2017

Von Berlin sind es rund 25 Zugstunden. Man durchquert Polen in voller Länge. Breslau, Krakau, die ukrainische Grenze, dann Lemberg. Alte Städte, die wie geheimnisvolle Perlen an der Strecke aufgefädelt sind. Der Zug ab Lemberg erzählt noch von Sowjetzeiten, in ruhigem Tempo rollt er ostwärts, Dieselwolken fliegen am Fenster vorbei. Draußen weites Land, Zwiebeltürme orthodoxer Dorfkirchen stupsen den Himmel an, Ziegen an Pflöcken fressen Kreise ins Gras, aufgesteckte Heuhaufen hocken wie Gnome in der Landschaft. Wenn der Zug vor­beikommt, halten die Menschen in Gärten und Feldern inne und schauen. Manche winken. Irgendwann legt sich Abendlicht über die Landschaft. Czernowitz ist nicht mehr weit.

«Warum schreibe ich? Vielleicht weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein.» Rose Ausländer gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Wer vom Zauber ihrer klaren und träumenden, ihrer ernsten, dunklen und lichten Zeilen berührt wurde, weiß warum.
Die Stadt, die sie vielleicht zum Schreiben brachte, liegt in der Bukowina, dem «Buchenland» nördlich der Moldau, wo die Kaparten in sanften Wellen auslaufen, bevor im Osten die Bessarabische Steppe beginnt. Ein altes Kronland des Habsburger Reiches, im heutigen Westen der Ukraine. Manche sagen, es sei ein Paradies gewesen.

Der Zug hält. Draußen ist Nacht. Vor dem prächtigen Bahnhof im Wiener Secessionsstil liegt eine Stadt auf Hügeln. Ein steiler Anstieg führt ins Zentrum, die Wege gepflastert, viele mit Bäumen gesäumt, deren Äste so tief auf die Gehsteige hängen, dass sie dem Ankommenden mit ihren Blättern über den Kopf streicheln. Als Rose Ausländer hier 1901 «im seidigen Grün einer Mainacht» geboren wurde, spross nicht nur der Flieder rings um ihr Elternhaus. Der ganzen Stadt stand eine Blüte im Gesicht – eine geistige, kulturelle Blüte, die sich aus dem Zusammenleben mehrerer Völker unter der toleranten Herrschaft der Habsburger entwickelt hatte. Die Luft war erfüllt von mindestens sechs Sprachen – Deutsch, Jiddisch, Rumänisch, Ukrainisch, Polnisch und Hebräisch. Chassidische Sagen drangen aus dem nahen Sadagora herüber, aus dem der Vater der Dichterin stammte. Das Jüdische und die Erzähl­traditionen der anderen Völker vermengten sich im Herzen der Dichterin wie im Äther der Stadt mit Rilke, Nietzsche, Hölderlin, Mann, Kraus, Hesse und allem, was hier an deutscher Literatur gelesen wurde. Und gelesen wurde viel in Czernowitz! Man las und diskutierte zu Hause, in den großen Parks, in literarischen Salons und in den zahlreichen Kaffeehäusern nach Wiener Vorbild. «Es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten», blickt später ein anderer zurück, der ebenfalls in Czernowitz geboren wurde: Paul Celan. Seine oft kryp­tische Lyrik, hinter der sich Welten, Abgründe, Schmerz und Liebe verbergen, trägt häufig den Stempel dessen, was ihn in Czernowitz traf.
1941 marschierte die deutsche SS ein und ermordete jene, die hier eine deutschsprachige Hochkultur gepflegt hatten: die Bukowiner Juden. Die Wenigen, die überlebten, verstreuten sich in aller Welt. Schwarz, / wie die Erinnerungswunde, / wühlen die Augen nach Dir / in dem von Herzzähnen hell- / gebissenen Kronland, / das unser Bett bleibt. Das schrieb Celan 1964. Ausgeblutet und hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden, wurde Czernowitz Erinnerung, Erzählung und Mythos. «Eine versunkene Stadt. Eine versunkene Welt», so Rose Ausländer.

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Fotos: © Christian Hillengaß | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Die Häuser stehen noch wie damals. Architektur der Jahr­hundertwende, viel Jugendstil. Die Straßen, spärlich beleuchtet, lassen die Sterne herein und geben Raum für Fantasie und Mythos. Aber wie sieht eine versunkene Stadt bei Tageslicht aus?
Mauersegler sirren durch den hellblauen Morgenhimmel. Die Fassade des alten israelitischen Tempels im Zentrum leuchtet im selben Blau. Er war einst das größte von rund siebzig jüdischen Gebetshäusern in der Stadt. In nur einem davon ging das Ner Tamid, das ewige Licht – auch in den Zeiten von Faschismus und Kommunismus – nie aus. Ein zweites ist wieder dazugekommen. Der große Tempel aber ist heute ein Kino. «Cinemagoge», sagen die Einheimischen.
Nicht weit von hier beginnen die Straßen des ehemaligen jüdischen Ghettos. Äußerlich ein Viertel wie die anderen. Alte Frauen sitzen auf den Gehwegen und ver­kaufen Schätze aus ihren Gärten und Küchen: Himbeeren und Holunderblüten, Kirschen und Kefir. Aber der Blick in die Vergangenheit zeigt Menschen, auf engstem Raum zusammengepfercht, bis sie Zug um Zug weniger wurden. Rose Ausländer überlebte hier in Kellern die «unendliche Sonnenfinsternis», erlitt Misshandlungen und Zwangsarbeit. Heimlich, oft unter Lebensgefahr, traf sie sich in diesen Jahren mit Freunden, um Gedichte zu lesen. Hier, so erzählte sie, lernte sie auch den neunzehn Jahre jüngeren Paul Celan kennen und war wie elektrisiert von seinen Gedichten. Sie sollten sich noch mehrere Male begegnen, immer mit gegenseitigem Gewinn für ihr Schreiben.

Nach dem Krieg besuchte Rose Aus­länder Celan in Paris, wo er noch mit den Schatten kämpfte, die ihn in Czernowitz heimgesucht hatten. In einer Nacht, in der er nicht zu Hause war, waren seine Eltern deportiert worden und nie wieder zurückgekehrt. «Es soll nun Frühling werden, Ruth», schrieb er 1943 an eine Freundin. «Seit ungefähr zwei Jahren fühle ich nicht mehr Jahreszeiten und Blumen, und Nächte und Verwandlungen überhaupt.» 1970 trieben ihn Schmerz und Wahnsinn ins Ertrinken.
Ein kleines Celan-Denkmal steht an einer rauschenden Hauptstraße. Die Mittagssonne, so grell, dass die Augen schmerzen, leuchtet auch den letzten Winkel der Stadt mit gnadenloser Abgeklärtheit aus, zeigt den Verfall der Häuser, bringt überquellende Mülltonnen zum Stinken und lässt die vielen halbwilden Straßenhunde Schatten suchen. Im Celan-Literaturzentrum dagegen ist die Luft wie in einem Kühlschrank, die Klimaanlage funktioniert einwandfrei, die Kaffeemaschine auch, starker Espresso bringt die Lebensgeister zurück. Niemand sonst ist im Café, Bücherwände mit Celan-Ausgaben und deutscher Literatur umrahmen die Stille. Auf einmal tönt die Stimme des Dichters im Raum. Seine Todesfuge. Eindringlich, beinahe singend, kreist sie sich unaufhaltsam in die Wahrnehmung. Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken / wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng / Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der / schreibt / der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes / Haar Margarete …
Auch als die Aufnahme längst wieder elektronischer Musik gewichen ist, die nun den Raum beschallt, hallen die Verse nach, kehren die Worte wieder und wieder. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland / dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith.

Eine Begebenheit draußen holt zurück in die Gegenwart. Auf Rose Ausländers altem Schulweg kommt eine Frau im rot-weiß gepunkteten Kleid und fragt: «Möchten Sie Blumen geschenkt?» Lässt drei rote Rosen da und läuft mit einem Lachen weiter. Rosen für den Ausländer. Die Lieblingsblumen der Dichterin. Wie ein augenzwinkernder Gruß.
Weiter den Berg hinunter, eine staubige Landstraße entlang auf einen Nachbarhügel. Hier liegen die Friedhöfe. An lateinischen und kyrillischen Buchstaben auf den Grabsteinen lässt sich noch das alte Nebeneinander ab­lesen. Hilde, Elisabeth, Franz und Wenzel. Igor, Tatjana, Dimitrj und Marinja.
Der jüdische Friedhof – gleich auf der anderen Straßenseite – gehört zu den größten Europas. Verlassen und überwuchert liegt er da, Grabsteine neigen sich zur Erde, die Zeremoniehalle ist verfallen. Wie gespiegelt liegt auf dem Hügel gegenüber das jüdische Viertel. Die Häuser sind – von hier aus ge­sehen – nicht größer als die Grabsteine. Nähe der Gräber heißt ein Gedicht von Paul Celan: Und duldest Du, Mutter, wie einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim? Das Weiterschreiben in der Sprache der Mörder war keine Selbstverständlichkeit.

Zurück in der Stadt und wieder über einen Hügel, liegt die Herz-Jesu-Kirche, in der gerade die Abendmesse gefeiert wird. Wieder. Im Kommunismus wurde sie als Archiv genutzt. Erst vor Kurzem hat man die dafür eingezogenen Wände und Stockwerke wieder aus dem Kirchenschiff herausge­brochen. Zwischen Trümmern und Ziegelhaufen steht der Priester und singt mit seiner siebenköpfigen Gemeinde. Ihre Melodie füllt den Raum, tönt durch die zersplitterten Fenster in den Abend. Eine Madonna auf einem Baugerüst neigt lauschend den Kopf.
Der Weg zum Bahnhof führt wieder steil bergab. Die Stadt schubst einen hinaus, sagen die Einheimischen, wenn das Gefälle die Schritte beschleunigt. Die Bilder der Vergangenheit treten zurück. «Mein Atem heißt jetzt», schreibt die Dichterin.