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Sara Kadefors

Billie. Abfahrt 9:42

Nr 214 | Oktober 2017

gelesen von Simone Lambert

Eine Zwölfjährige aus prekären sozialen Verhältnissen wird in eine Pflegefamilie gesteckt – doch wer die Läuterung einer schwer Erziehbaren erwartet, wird überrascht. Denn Billie, deren Mutter eine fettsüchtige MS-Kranke ist, die sich nicht mehr um ihre Tochter kümmern kann, ist kein Kind mit Drogenproblemen oder Gewalterfahrungen. Billie ist ein eigenwilliges, zugewandtes Wesen, das früh gelernt hat, für ihre Mutter und sich selbst zu sorgen.
Auf Eingreifen der Behörden gerät sie aus der Großstadt in ein Dorf, nach Bokarp, in die 1a-Pflegefamilie von Petra, der Pfarrerin, und Mange, dem Sportlehrer, die sich ihrer freundlich und geduldig annehmen. Die Kinder Alvar und Tea passen sich an und gehorchen und verbergen ihre Interessen vor den Eltern. Kalt und verschlossen erscheint Billie die Familienwelt, bis sie den Grund für diese Erstarrung erfährt.
Schule, Kirche, Vereinswesen und Gospelchor – das Sozialleben in Bokarp ist klar geregelt. Bereitwillig und vorurteilslos geht Billie auf die neuen Mitmenschen zu. Sie fällt auf, nicht nur wegen ihrer Dreadlocks. Sie nennt die Dinge beim Namen, fragt hartnäckig nach und macht sich kritische Gedanken. Schnell ist sie beliebt, denn Billies Interesse ist wie ein Lebenselixier, es verbreitet Wärme in dem kleinen Ort. Billie selbst braucht weder eine beste Freundin noch eine feste Clique, aber wer ihr begegnet, wie die Familie von Petra, Mange, Alvar und Tea, den nimmt sie an.
Die Literaturwissenschaftlerin Manuela Kalbermatten hat in ihrer Rezension für die Neue Zürcher Zeitung Billie als eine Pippi Langstrumpf des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Tatsächlich spielt Sara Kadefors gekonnt auf Motive des Lindgren-Klassikers an. Aus dem abwesenden, massigen Vater wird eine unförmige, kranke Mutter, die sich ebenfalls nicht kümmern kann. Aus den roten Zöpfen werden Dreadlocks. Aus der enormen physischen Kraft ein seelischer Hafen für viele. Auch die Kontrastfiguren fehlen nicht: statt Annika und Thomas sind es Alvar und Tea.
Die Kunstfigur des fremden Kindes, das anderen den Weg weist, scheint aus der Romantik in die Gegenwart versetzt. Doch Billie. Abfahrt 9:42 enthält keine phantastische Ebene. Und Billie, die Städterin, ist auch kein Naturkind. Allerdings obliegt der lebendige Umgang mit der modernen Welt in all ihren Erscheinungsformen diesem unkonventionellen Mädchen, das nicht jugendfreie Fernsehserien geradezu inhaliert und ein Herz für verlorene Gestalten hat. Und Billie, die ein normales Familienleben bislang nicht kennt, ist entwicklungsfähig. Langsam schließt sie das «langweilige Dorf» ins Herz. Sie singt sich ihre Nöte von der Seele. Sie erkennt die Vorzüge des Familienlebens, das sich mit allen Widersprüchen entwickelt, und nimmt sie an.
Sara Kadefors ist mit diesem Buch, mit dieser Figur etwas Ungewöhnliches gelungen. Ihr dialogbetonter Roman ist reine Gegenwart. Er folgt der Ungewissheit, die Leben mit sich bringt. Es ist eine fesselnde Erzählung, die sozialen Prozessen auf der Spur ist, statt zielgerichtet eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende zu beschreiben. Billie erschafft Zeit für Gemeinsames, und darin ist sie vielleicht noch mehr Michael Endes Momo als Pippi vergleichbar. Das ist ebenso gefühlvoll wie unsentimental. Und unwiderstehlich. – Die Fortsetzung Billie. Wer sonst? erscheint im November 2017.