Oh meine Liebe

Nr 215 | November 2017

Liebe Leserin, lieber Leser

«Oh my love for the first time in my life my eyes are wide open», singt der ehemalige Beatle John Lennon auf seinem 1971 erschienenen berühmten Album Imagine, das er mit der Plastic Ono Band aufnahm: «Oh meine Liebe, zum ersten Mal in meinem Leben / sind meine Augen weit geöffnet / Oh mein Geliebter, zum ersten Mal in meinem Leben / können meine Augen sehen», komponierten John Lennon und Yoko Ono in ihrem Lied Oh My Love zusammen. Seit dem 20. März 1969 waren sie verheiratet – er, der am 9. Oktober 1940 in Liverpool geboren wurde, zum zweiten Mal; sie, die am 18. Februar 1933 in Tokio zur Welt kam, zum dritten Mal. Sie stammt aus einer der reichsten und einflussreichsten sowie künstlerisch gebildetsten Familien Japans. Er ist der Sohn eines weltumsegelnden Matrosen und einer den Liebschaften nicht abgeneigten Mutter, die beide aus einfachen Verhältnissen kommend doch musisch veranlagt sind, sich aber früh trennten.
Die erste Begegnung von John Lennon und Yoko Ono am 9. November 1966 hätte urbildhafter nicht sein können: Yoko Ono, bereits als aufsehenerregende New Yorker Aktionskünstlerin bekannt, ist 1966 in London, um an einem Symposion über Kunst und Zerstörung teilzunehmen. Da erhält sie von John Dunbar die Einladung, in der Indica Gallery ihre eigenen Werke auszustellen. Am Vorabend der Vernissage, während Yoko Ono noch beim Aufbau ist, wird sie vom Besuch des Galleristen in Begleitung eines ihr unbekannten, aber sehenswert schönen Mannes – wie sie später berichtet – überrascht. Dieser schaut sich neugierig um, sieht einen ausgestellten grünen Apfel, der angeblich 200 Britische Pfund kosten soll. Ohne zu zögern ergreift der Unbekannte den Apfel und beißt hinein. Yoko Ono ist so empört, dass er eiligst den Apfel wieder hinlegt. Als Nächstes sieht der junge Mann einen Hammer und einige Nägel bei einem Exponat mit der schriftlichen Aufforderung: «Schlag einen Nagel ein». «Kann ich einen Nagel einschlagen?», fragt der etwas vorsichtiger gewordene junge Mann. «Nein», antwortet Yoko Ono irritiert, «die Austellung wird erst morgen eröffnet!» Aber Dunbar, der Gallerist, interveniert: «Lass ihn doch. Er ist Millionär. Vielleicht kauft er es dann.» – «Okay», willigt Yoko Ono schließlich ein, «aber es kostet fünf Schilling». – «In Ordnung», entgegnet der erst Sechsundzwanzigjährige, der nur noch vierzehn Jahre bis zu seiner Ermordung am 8. Dezember 1980 zu leben haben wird, «hier sind fünf imaginäre Schillinge und ich schlage einen imaginären Nagel ein». So begegneten sich John Lennon und Yoko Ono zum ersten Mal: Sie blickten sich in die Augen – sie verstand es. Er verstand es. Und um beide war’s geschehen.
Ein paar Jahre später fand John Lennon in einem Konzeptbuch von Yoko Ono immer wieder die Auf­forderung «Imagine», «Imagine»! Und aus ihrem gemeinsamem Leben für den Frieden entstand der Song Imagine. In der weltverändernden Kraft der Fantasie erlebten sie den Quellort ihrer Liebe zueinander. Ihre Liebe ließ sie die Welt neu sehen, wie es auch im Lied Oh My Love erklingt: I see the wind, oh I see the trees / Everything is clear in my heart / I see the clouds, oh I see the sky / Everything is clear in our world.

Möge unsere Liebe uns ebenso sehend machen!
Von Herzen grüßt Sie in diesem November, Ihr

Jean-Claude Lin