Ruth Ewertowski

Wieder lesen

Nr 216 | Dezember 2017

Weil so viel Lebenswertes auf dem Spiel steht

Sie kommen ihr Leben lang nicht voneinander los, auch wenn sie sich gegenseitig nur das Ärgste verdanken: Ruven Preuk, der begabte Geiger, der in dem Dorf, in dem er groß wird, ebenso fehl am Platz ist wie in der Stadt und ihrer feinen Gesellschaft; und Fritz Dordel, der «Fischotter», ein grobschlächtiger Junge aus der ferneren Nachbarschaft, bei dessen Vater Ruven anfangs das Geigen lernt. Fritz bewundert und beneidet Ruven. Beide suchen ihre Karriere zu machen, und beide scheitern – am Krieg, am Milieu, am Ungeliebtsein, aneinander. Es ist der Nazi Fritz, der mit schuld ist an dem traurigen Ende, das Ruvens Frau Lene nimmt, und daran, dass der Geiger seine ganz große Liebe, die Jüdin Rahel, nicht wiederfinden kann. Das ist die Rache dafür, dass Fritz in prägender Jugend immer im Schatten des Hochbegabten stand. Er musste mit anhören, dass sein eigener Vater lieber Ruven als ihn zum Sohn gehabt hätte.
Dennoch kann man nicht sagen, es wäre für beide besser gewesen, sie wären sich nie begegnet, weil sie einander nur Kränkungen und Unglück gebracht haben. So ist es eben nicht: Das Leid, die Schicksalsschläge, die die Menschen einander bereiten, sind zwar immer das, was besser nicht geschehen wäre, aber deshalb nicht einfach sinnlos. Die gemeinsame Geschichte von Ruven und Fritz wird sich schwer beladen runden, auch wenn beide nicht an ihr Ziel kommen und beide schlimme Versäumnisse oder Taten auf ihrem Gewissen haben. Sie werden als alte Männer und noch über den Tod hinaus einander ihre Geständnisse machen, die sie erkennen lassen, wie sich alles gefügt hat und wie sie miteinander zusammenhängen. So wird Fritz erfahren, dass ihn Ruven einmal schwer verleumdet hat, was dazu beitrug, dass ihn alle nicht leiden konnten. Und Ruven seinerseits erkennt, dass Fritz seiner geliebten Rahel das Leben gerettet hat, indem er ihr eine «arische» Existenz verschaffte. Doch gab es dafür eine Bedingung, nämlich die einer anderen Identität, die sie für Ruven unauffindbar machte. Es ist eine böse Schadenfreude, die Fritz dabei hat, Herr über Leben und Tod zu sein und die lebende Rahel Ruven vorzuenthalten. Aber wir lernen auch seine ganz anderen Seiten kennen.

Gut und Böse sind in Das letzte Land, dem 2014 erschienenen Roman von Svenja Leiber (* 1975), nicht eindeutig verteilt. Es gehört zu den Charakteren, dass sie beides sind, und dies in Abhängigkeit voneinander. Ihre Lebensfäden sind verwoben, und in ihrem Scheitern liegt doch immer wieder etwas zutiefst Menschliches, das auch den Leser bei aller Not, die das Leben bereithält, auf Versöhnung einstimmt.
Es gibt Bilder in diesem Buch, die die Menschen so treffend beschreiben, wie es keine Erklärung vermag. Das ist Rhetorik im besten Sinne: Der junge Fritz sticht Frösche mit einem Spieß auf. Das ist brutal, aber in einem Dorf Anfang des 20. Jahr­hunderts jenseits der Empfindlichkeit. Er versorgt damit einen zahmen Storch, der ihn begleitet und damit tut, was kein anderer tun mag. «Wir sind keine Freunde mehr», sagt er zu Ruven, als wären sie es je gewesen. Der fragt noch schwach: «Warum?», aber kennt die Antwort: Fritzens Vater hätte lieber Ruven als Sohn. Das hat Fritz gehört und warnt jetzt Ruven, dass er nächstens vielleicht nicht mehr nur nach Fröschen stechen wird. Und als Ruven später einen zaghaften Brief an Rahel auf die Post bringt, kutscht der Fischotter-Fritz an ihm vorbei. Den zahmen Storch hat er neben sich auf dem Bock. Der hat nie mehr zu seinesgleichen zurückgewollt und benimmt sich auch eher wie ein etwas dürrer Mensch, schaut rechts und links vom Kutschbock und ist viel zu faul zum Fliegen. Fritz zügelt seinen Gaul und fährt im Schritt neben Ruven her. Erst sagt er kein Wort, und auch Ruven fällt nichts ein. Er sieht nur den Storch an und würde ihn eigentlich gern einmal streicheln. Da sagt Fritz ohne Vorwarnung: «Du bist einfach ein Feigling, Preuk!», und sie wissen beide, was er damit meint ...
Um solcher Situationen willen, in denen die ganze Potenz der Liebe, die möglich gewesen wäre, steckt, habe ich den Roman noch einmal gelesen und war erneut berührt. Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen, die man am Ende wegen ihres Versagens sowohl schelten als auch bedauern möchte. Und doch haben auch sie gelebt und ihre innigsten Momente gehabt. Nichts war umsonst, denn es gehört in eine große Geschichte, die letztlich auf die Liebe bezogen ist, auch wenn diese in der Unfähigkeit verkümmert – in der Sehnsucht ist sie da. Nie trivial. Immer tief bewegend.

In den Nebenfiguren aber wird sie dann doch Wirklichkeit. Wo der Held mit der großen Begabung sie verfehlt, da wird sie auf andere Weise gelebt, so in Tante Gesche, in deren Natur sie liegt: einfach und stark. Eine Frau, die als Waisenkind in Ruvens Familie groß geworden ist, die nie aus ihrem Dorf herauskommt, aber, wo es drauf ankommt, das Richtige zu tun weiß.
Sie ist es, die sich Marie, der Tochter Ruvens annimmt, die in Lieblosigkeit zu verkümmern droht. Und Marie wird die Liebe finden, die ihr Vater nur vom Suchen her kennt.
Außerdem ist da noch die Vermieterin, die zusammen mit Lene, Ruvens Frau, Juden auf dem Dachboden versteckt und dafür einen Mut aufbringt, in dem sich Menschliches ganz erfüllt: Und wissen Sie, Lene, wir können Dinge lassen …, wir können sie aber auch tun. Denn wenn wir sie lassen, dann sind wir keine richtigen Menschen. Und richtige Menschen wollen wir doch sein, Sie und ich.

Es gibt sie, die richtigen Menschen – und es gehören auch die «Versager» zu ihnen –, um derentwillen man dieses Buch immer wieder lesen kann. Sie zeigen sich gerade in der Unbarmherzigkeit des Lebens und lassen einen spüren, worauf es ankommt. Sie regen zur Nachahmung an, auch wenn die sich wieder verliert. Die Lektüre ist so wenig umsonst wie die Leben, von denen hier erzählt wird. Sie wirkt. Auch einer, der scheitert, wie Ruven, kann uns noch lehren, was wichtig ist, und wenn es nur von der Kehrseite her ist. Als Fünfzigjähriger schaut er zurück und erkennt es selbst: Als hätte man etwas Gutes und Wichtiges im Leben vorgehabt ... Als wäre die ganze Zerstörung nur ein Beweis, dass wir auf dem besten Weg waren. Wie der alte Hiob vielleicht. Für den Leser ist das nicht frustrierend. Er sieht vielmehr das Bemühen und die Fehler und weiß das eine zu schätzen und das andere zu verzeihen. Es hängt eine Wehmut über dem Ganzen, die einen nicht einfach bedrückt, sondern zeigt, wie viel Lebenswertes in unseren Leben auf dem Spiel steht.