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Diethild Plattner

«Friede auf Erden»

Nr 216 | Dezember 2017

Kann es heutzutage im Werk Selma Lagerlöfs für deutsch­sprachige Leser wirklich noch Neuentdeckungen geben? Eine wunderbare Weihnachtsgeschichte mit dem Titel Friede auf Erden ist der beste Beweis dafür, dass wir diese Frage getrost mit Ja beantworten können.
Die Nobelpreisträgerin hatte die Erzählung 1917 während des Ersten Weltkriegs geschrieben und in einer schwedischen Weihnachtszeitschrift veröffentlicht. Erst 1933, in einer politisch erneut sehr düsteren Zeit, erschien die Geschichte auch in einer Buchausgabe, und zwar in Lagerlöfs letztem Erzählungsband Höst (Herbst).
Das allerdings war eine Zeit, in der die schwedische Schriftstellerin in Deutschland nicht mehr ohne Weiteres rezipiert und übersetzt wurde. Seit sie sich zu Beginn des Jahres 1933 mit der Erzählung Die Schrift auf dem Erdboden für «landflüchtige Intellektuelle» (also jüdische Flüchtlinge) starkgemacht und sich zudem geweigert hatte, sich positiv über Hitler und sein nationalsozialistisches Regime zu äußern, ließ das Engagement ihres deutschen Verlags Langen Müller nach. Eine für Selma Lagerlöfs 75. Geburtstag im November 1933 geplante Gala fiel aus und auch keine Neuerscheinung wurde in Angriff genommen. Erst 1935 erschien das kleine Bändchen Wiederkehr nach Värmland und andere neue Geschichten, die aus dem Band Herbst stammten – die Weihnachtserzählung Friede auf Erden aber war nicht darunter.
Spätestens 1940, als Europa wieder vom Krieg überschattet war, lag diese Geschichte jedoch in der Übersetzung der Wienerin Marie Franzos (1870-1941) auf Deutsch vor. Allerdings nicht in Deutschland. Der Stockholmer Bermann-Fischer-Verlag, wie der Berliner S. Fischer Verlag im Exil hieß, veröffentlichte sie in dem Band Zwölf schwedische Erzähler von heute, herausge­geben von Olle Holmberg. Wahrgenommen wurden vermutlich weder die Geschichte noch der Sammelband.
Das lag zum einen daran, dass der Titel für das Programm von Bermann-Fischer untypisch war: Er hatte selbstverständlich deutschsprachige Literatur im Blick, die von den National­sozialisten verboten war. Der Band mit den schwedischen Erzählern war eine Art Tribut an das Gastland, das ihn und seinen Verlag so freundlich aufgenommen hatte. Zum anderen holte wiederum die politische Lage die Erzählung ein: Bermann-Fischer ließ das Buch im Frühjahr 1940 in den Niederlanden drucken – wo die gesamte Auflage von 2.800 Exemplaren beim Einmarsch der deutschen Truppen beschlagnahmt wurde. Eines der Bücher muss aber den Weg in die schwedische Hauptstadt gefunden haben, denn 1942 wurde eine zweite Auflage gedruckt. Über ihre Verbreitung lässt sich nur spekulieren. Vermutlich reichte sie nicht über das Exilpublikum des Bermann-Fischer-Verlags hinaus.
Die drei hauptsächlich für das Werk Verantwortlichen – Verleger, Autorin, Übersetzerin – hatten das Schicksal der Geschichte jedenfalls nicht mehr im Blick. Oder konnten sich nicht mehr um sie kümmern. Bermann-Fischer war in jenem Frühjahr 1940 in Stockholm verhaftet worden und führte, nach seiner Entlassung und der komplizierten Flucht in die USA im Herbst 1940, den Verlag von New York aus weiter. Selma Lagerlöf war am 14. März 1940 verstorben, und die Übersetzerin Marie Franzos hatte sich 1941 in Wien das Leben genommen, nachdem man ihr die Ausreise in die Schweiz verweigert hatte.
Kein Wunder also, dass die Geschichte in Vergessenheit geriet. Und umso wundervoller ist es, eine der stärksten Weihnachtserzählungen Lagerlöfs heute ganz neu zu entdecken. Ihre Botschaft trifft uns – immer noch – mitten ins Herz.