Warum Kunst?

Nr 217 | Januar 2018

Liebe Leserin, lieber Leser!

Was treibt einen Menschen dazu, etwas zu erschaffen, was allem Anschein nach bloß betrachtet, befühlt, belauscht werden soll? Etwas wird gemalt, geritzt, gemeißelt oder geschnitzt, was nicht als Werkzeug oder Gewand oder Gefäß oder Waffe dienen, sondern allein wahrgenommen, genossen werden sollte, oder, wie die in einer Höhle der Schwäbischen Alb gefundene, an die 30.000 Jahre alte Flöte es offenbart, dazu geschaffen wurde, um Töne in pentatonischen Intervallen, also Musik, hervorzubringen. Vor 30.000 Jahren, ja gar vor 40.000 Jahren, wie wir seit dem Fund auf der Schwäbischen Alb im Jahr 2008, aber auch von anderen Funden an anderen Orten der Welt, wissen können, haben die Menschen kleine Figuren gestaltet, die wir als Kunst, als früheste künst­lerische Schöpfungen auffassen müssen.
Dieses Hervorbringen eines Objekts der Anschauung, der sinnlichen Wahrnehmung, das der Mensch eigentätig erschafft und nicht bloß vorfindet, scheint mir dem Vorgang der Hervorbringung eines Gedankens verwandt zu sein. Die Höhlenmalereien der Steinzeit wie auch die noch älteren kleinen Statuetten oder Tierplastiken zeugen vom erwachenden Denken der frühen Menschen. Es schaut sich, empfindet sich der Mensch selbst – wie auch im eigenen Denken –, wenn er Künstlerisches hervorbringt.
Mit der Geburt der Kunst findet auch die Geburt des denkenden Selbstbewusstseins des Menschen statt. Und wenn eine Frau vielleicht einer anderen schwangeren Frau so eine zu befühlende kleine Frauengestalt mit derart «übergroßen Brüsten und ausgeprägter Vulva» – wie Christian Hillengaß in unserer Reportage schreibt – schenkte, so meinte sie vielleicht damit ebenso: Fühle, wie in der Geburt deines Kindes du auch die Geburt deiner Gedanken und deines Selbstbewusstseins an dieser kleinen Figur erleben kannst. Du bist selbst am Ursprung der Welt, am Ursprung deines Selbst. Empfinde nicht nur den Schmerz, fühle dich im Hervorbringen deiner Gedanken selbst schöpferisch – wie auch dein Leib neues Leben hervorbringt.
Könnten wir Heutigen uns doch tatsächlich einleben in die Erfahrungen dieser so weit entfernten Menschen!

Von Herzen grüßt Sie zum neuen Jahr 2018, Ihr

Jean-Claude Lin