Gerald Häfner im Gespräch mit Jean-Claude Lin

Brücken bauen: Deutschlands Aufgabe in Europa

Nr 217 | Januar 2018

Gerald Häfner, 1956 in München geboren, Mitbegründer der Partei «Die Grünen», war zwischen 1987 und 2002 Mitglied des Deutschen Bundestags und von 2009 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. Er erhielt 2001 das «Silberne Mikrofon» als bester Redner der Abgeordneten des Deutschen Bundestages und 2005 den «National Leadership Award für Politische Innovation» des Economic Forum Deutschland. Heute leitet er die Sektion für Sozialwissenschaften am Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach bei Basel (www.goetheanum.org).

Jean-Claude Lin | Lieber Gerald Häfner, wie blicken Sie auf die zurückliegende Bundestagswahl?
Gerald Häfner | Wahlen sollten ein Festtag der Demokratie sein. Das ist ja - nur alle vier und in Zukunft alle fünf Jahre einmal - ein Tag, an dem es wirklich zählt, an dem man die Weichen neu stellen kann und die Zukunft des Landes verhandelt. Gemessen daran bin ich oft deprimiert, wie wenig die wirklich großen Fragen unserer Zukunft im Wahlkampf überhaupt thematisiert werden. Mein Eindruck ist, dass die Wahlkampfstrategen ganz bewusst wichtige Themen vermeiden und ansonsten in ihren Aussagen oft vage und unbestimmt bleiben. Das führt zum Verlust der politischen Debatte. Es betrübt mich, dass die Chance ungenutzt verstrichen ist, im Wahlkampf die entscheidenden Themen offen, ehrlich und in allem Ernst zu erörtern. Denn die Wirklichkeit verlangt das.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

JCL | Welche Themen haben Ihnen gefehlt?
GH | Ich will ein Beispiel geben: Wir werden in den nächsten zwei Jahrzehnten durch die zunehmende Digitalisierung fast aller Lebensbereiche zwischen 40 und 50 Prozent der gegenwärtigen Arbeitsplätze verlieren. Das ist eine Entwicklung, die nicht mehr nur die Warenproduktion betrifft. Da ist es schon längst deutlich, weil Maschinen, Automaten und Roboter wesentlich mehr produzieren können als ein Mensch in der gleichen Zeit. Aber wir werden in Zukunft auch etliche der sogenannten «White-Collar-Jobs» nicht mehr brauchen – also Berufe, für die Menschen lange studiert haben und viel Wissen brauchen. Man wird künftig z.B. kaum noch zum Rechtsanwalt gehen, sondern lieber ein Rechtsberatungsportal im Internet aufsuchen, von dem man den fertigen Schriftsatz herunterladen kann; oder man heuert keinen Übersetzer mehr an, sondern verwendet ein Übersetzungstool im Internet. Das ist alles doch nicht mehr fern, es ist absehbar, dass das kommt. Zugleich steuern Algorithmen immer mehr Lebensbereiche. «Artificial Intelligence», «Meinungsroboter» – wir stehen vor Veränderungen, die die Grundfesten unserer Gesellschaft erschüttern.
Es ist ja ein festes Credo: «Im Schweiße des Angesichts sollst du dein Geld verdienen! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!» Was ist aber, wenn wir gar nicht mehr genügend Arbeitsplätze haben für all diese Menschen, wie das heute schon in Griechenland, Portugal, Spanien, Frankreich der Fall ist? Woher kommt dann das Einkommen? Wie lösen wir die daraus resultierenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme? Keine Diskussion darüber im Wahlkampf, ob in Deutschland oder andernorts! Und das ist nur ein Beispiel – man könnte auch andere nennen.

JCL | Aber das scheint kein Problem, zu sein das die Bevölkerung im Moment tatsächlich fühlt. Insofern kann man nachvollziehen, dass die Parteien es nicht zum Hauptthema machen. Derzeit spielen offenbar in Deutschland ganz andere Fragen die Hauptrolle wie beispielsweise der Umgang mit Flüchtlingen.
GH | Ich rechne es Angela Merkel hoch an, dass sie hierbei nicht zu platten Parolen gegriffen hat. Die Flüchtlingssituation 2015 war ein Beispiel dafür, dass man in der Politik nicht alles vorhersehen kann und dass es meistens anders kommt, als man denkt. Das war auch meine Erfahrung. Ich habe vor jeder Parlamentskandidatur nachgedacht, welche Themen diese vor uns liegende Zeit prägen werden. Und ich habe mir vorgenommen, was ich in dieser Zeit bewegen und verändern will. Das habe ich dann, soweit möglich, auch geschafft. Aber es war jedes Mal so, dass auch etwas ganz Unerwartetes eintrat, das keiner vorhergesehen und auf das auch keiner so schnell eine Antwort hatte. Für solche Situationen brauchen wir verantwortungsvolle und weitblickende Politiker. 2015 war Haltung gefragt, nichts anderes. Und Angela Merkel hat Haltung gezeigt. Das hat mich gefreut, das hatte ich nämlich früher so bei ihr noch nicht häufig finden können. Sie war eher die, die wartete, bis alles entschieden war, sich dann auf die «richtige» Seite schlug, und tat, als sei sie schon immer da gewesen. Jetzt aber konnte sie nicht ausweichen. Sie war im Urlaub, und in der Union ging es drunter und drüber; alle Positionen von freundlicher Aufnahme bis zu völliger Abwehr aller Flüchtlinge wurden artikuliert, und Sigmar Gabriel sagte nur immer: «Die Kanzlerin muss ein Machtwort sprechen!» Dann kam sie aus dem Urlaub zurück und hat Haltung gezeigt. Die moralisch einzig mögliche Haltung zu dieser Zeit.

JCL | Mindestens eine Partei möchte Deutsch­­land «zurückholen» und wieder dem «eigenen Volk geben». Ich habe mich gefragt, ob aber gerade diese erwähnte Haltung in dieser Entscheidungszeit für ein ganz neues Deutschland stehen könnte. Wie sehen Sie das?
GH | Was ist denn deutsch? Ich möchte mal einen frappierenden Aspekt erwähnen: Die Deutschen lernen statistisch mehr Fremd­sprachen als ihre Nachbarn. Sie sind Reiseweltmeister, reisen mehr und auch anders: Am Strand in Java treffe ich noch viele Amerikaner und Australier, aber in der verwunschenen, abgelegenen Tempelruine im Inland nur noch ein paar Deutsche, die kulturell so interessiert sind, dass sie diesen Ort gesucht haben.
Natürlich sind nicht alle so – aber das ist eine Qualität. Diese Qualität war übrigens auch im Europäischen Parlament spürbar. Sie war allein schon daran ablesbar, in welche Ausschüsse die Deutschen gingen und wie sie arbeiteten. Bei vielen anderen Ländern war erkennbar, dass der eine oder andere Abgeordnete im Parlament sitzt, um dort für sein Land, seinen Wahlkreis oder sein Klientel möglichst viel heraus­zuholen. Das habe ich bei deutschen Abgeordneten seltener erlebt. Sie haben sich, auch wenn wir im Einzelfall ganz unterschiedlicher Meinung waren, eher die Frage gestellt: Was ist gut für Europa als Ganzes? Das findet man nicht überall. Trotzdem war die Angst der anderen vor einer Übermacht der Deutschen riesengroß. Diese Angst hat sehr berechtigte historische Gründe. Daraus müssen wir lernen. Wir verstehen uns als Deutsche ja selbst nur richtig, wenn wir uns unserer Vielfalt – von Bayern bis Friesland – wie auch unserer verschiedenen Wurzeln bewusst werden, die wir aus den unterschiedlichsten Kulturen, Ecken und Räumen Europas haben.

JCL | Können Sie das etwas konkretisieren?
GH | Ja. Deutschland, in der Mitte Europas gelegen, war eigentlich immer nur dann gut, wenn es im Frieden mit anderen existieren konnte, wenn es selbst an Verständigung, an Austausch und am Bauen von Brücken interessiert war. Es wurde aber immer für sich und für die anderen zum Problem, wenn es anfing, nur noch an sich selbst zu denken. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Ich glaube, das ist eine ganz tiefe Signatur, auch eine Tragik der deutschen Geschichte: Dort, wo die Deutschen wirklich nur noch an sich dachten, also im Nationalsozialismus («Ein Volk, ein Reich, ein Führer!»), wo die Idee vorherrschte, Deutschland über die Grenzen hinaus auszudehnen, waren die Folgen entsetzlich. Nicht nur mussten Millionen durch unsere Schuld leiden und sterben, sondern in der Folge wurde Deutschland auch noch in der Mitte geteilt und hatte über mehrere Jahrzehnte das Schicksal eines getrennten Volkes, eines geteilten Landes, das zwei verschiedenen Blöcken angehörte, zwei verschiedenen Systemen. Wenn wir daraus etwas lernen können, dann ist es die Lehre, dass unsere Aufgabe immer darin liegt, Brücken zu bilden und Verständigung zu schaffen.

JCL | Und was kann zur Stärkung der europäischen Idee, zum Verhältnis der einzelnen Länder in Bezug auf Europa getan werden?
GH | Deutschland ist da gut, wo es selbstlos ist und nicht zentralistisch, sondern föderal. Nehmen wir das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen – das ist ein Verfassungsgrundsatz, den finden Sie in keiner anderen europäischen Verfassung. Im deutschen Grundgesetz steht: Die Gemeinden haben «das Recht der Selbstverwaltung». In Deutschland ist die Kommune nicht etwa eine nachgeordnete Stelle der Regierung, sondern es ist letztlich umgekehrt; die Kommune ist der primäre Ort der Souveränität. Es gibt zwar viele politische Gebiete, Rechtsgebiete usw., in denen diese Souveränität auf eine der höheren Ebenen übertragen wurde, doch weiterhin verwalten sich die Kommunen selbst. Das macht, glaube ich, unsere Stärke aus. Und dieser Geist lebt in Europa noch nicht. Man kann Europa besser machen. Die Ideen dazu liegen auf der Hand. Wie gut, dass es jetzt im Europäischen Parlament den Vorschlag gibt, einen neuen Konvent einzuberufen, und dass Emmanuel Macron, der Staatspräsident Frankreichs, diesen Vorschlag in seiner großen Europarede neulich unterstützt hat. Darauf setze ich.
Ich habe diese Idee schon vor über 10 Jahren ins Spiel gebracht – und seither sammeln wir Unterstützer dafür. Wenn es ein demokratischer Konvent wäre, wenn man wirklich die Bereitschaft hätte, hier einen offenen, freien Raum der Beratung zu ermöglichen, wenn man vielleicht sogar noch einen Schritt weiterginge und zuließe, dass aus der Zivilgesellschaft in diese Beratung Vorschläge eingebracht werden können und alles anschließend breit in der Öffentlichkeit diskutiert werden könnte, um am Ende den Bürgerinnen und Bürgern zur Abstimmung vorgelegt zu werden: dann kämen wir endlich zu einem demokratischen und guten Europa! Zu einem Europa von unten. Dann entstünde ein Europa, das nun nicht mehr ein Europa der Staaten, Institutionen und Regierungen ist, sondern ein Europa der Bürger! Eine Verfassung wird anders aussehen, wenn sie am Ende den Bürgerinnen und Bürgern und nicht den Regierungen zur Abstimmung vorgelegt werden muss. Auf diesen Tag würde ich mich freuen. Den Tag, wo Selbstverwaltung und Demokratie sich von der Kommune über das Land, den Staat bis nach Europa hochzieht und wir souveräne Bürger all dieser Ebenen werden: Wir sind Europa!