Christa Ludwig

Unser Voldemort

Nr 218 | Februar 2018

Wir haben es alle bei Harry Potter gelernt: Voldemort sagt man nicht!!! Diese drei Silben auszusprechen verbietet nicht der Anstand, diese neun Buchstaben zu meiden ist ein Gebot der Angst. Voldemort, der Inbegriff des Bösen, wird herbeibeschworen, wenn man ihn beim Namen nennt.
Das «Voldemort» unserer Gesellschaft hat nur drei Buchstaben. So ein kleines unscheinbares Wort! Kein bisschen schrill ist es, es hat nicht einmal ein «I» nur ein volltöniges «A» wie sanft. Manchmal hört man es sogar gern, z.B. zusammen mit Wein, Burg, Baum, Schildkröte. Aber bitte nicht mit Mensch! Doch das war nicht immer so. Es galt einmal als ehrenhaft, das zu sein, was dieses Wort aussagt: alt. Wie konnte es geschehen, dass es ein Schimpfwort wurde?
Wir ersetzen es – merkwürdig – durch seine Steigerung. Man wird in unserer Gesellschaft nicht alt, man wird älter, schon älter oder schon etwas älter …Und man hat in unserer überalternden Gesellschaft die früher einmal Alten durch die Senioren ersetzt und beherbergt diese auch in entsprechenden Heimen.
In unserer Lokalzeitung las ich einen lobenden Artikel über eine Gruppe Jugendlicher, die in Seniorenheime gehen und mit den Senioren spazieren, Skat und Schach spielen … Auf dem Foto dazu sind ein junges Mädchen und eine ältere Frau; Letztere mit genauer Angabe ihrer Lebensjahre: 95.
Ich war fassungslos. Darf denn bitte ein Mensch mit 95 Jahren nicht endlich – endlich! – alt genannt werden?
Wie sie sich alle vor diesem Wort verdrehen, verbiegen, kringeln! Sie wollen es ausmerzen, wollen es bannen, indem sie es meiden und seinen Inhalt bekämpfen wie eine ansteckende Krankheit. Scharen von Wissenschaftlern (meist ältere Männer) arbeiten daran. Sie kommen gut voran. Sie haben im Blut jenen Stoff isoliert – es ist ein Eiweiß –, der den Prozess des Alterns Jahrzehnte hinauszögern kann. Wie teuer werden diese Medikamente sein? Wird dauerhafte Jugend ein Luxus wie das Zweithaus und der Drittwagen? Bei denjenigen, denen man den Verlust der Jugend anmerkt, erkennt man dann zugleich den sozialen Status – und auch in täuschend gefakten Markenkleidern aus China sehen sie doppelt alt aus.
Ich verstehe das alles nicht! Ich bin gerne alt! Ich bin 68 und ich weigere mich, von mir zu sagen, ich sei nun schon älter, ich bestehe darauf: Ich bin alt! Es gefällt mir. Ich genieße es. Es ist so viel Frieden und Freiheit in diesem Zustand. Endlich frei davon, sich immer beweisen zu müssen, endlich zugeben können: Ich mag nicht mehr auf den Autobahnen fahren, da ist alles zu schnell. Ich darf langsamer gehen, langsamer leben, langsamer lesen, langsamer schreiben. Die Augen lassen nach – dann sollen die Blicke nach innen gehen. Die Ohren lassen nach – dann soll das Hören nach innen lauschen. Die Kräfte lassen nach – dann sollen die Jungen die Arbeit tun. Angst vor Alzheimer? Vielleicht davor, das den Angehörigen anzutun. Aber ist dieser Zustand für die Betroffenen wirklich so schlimm? Vergessen, was vor einer Stunde war – kann das nicht auch die Erfüllung des lebenslangen Wunsches sein, endlich im Augenblick, nur im Augenblick zu leben?
Freilich – ich kann laufen, Rad fahren, reiten, schwimmen, ich kann ohne Schmerzen in der Sonne liegen und lesen und ich habe mehr Zeit zum Schreiben als je zuvor! Wenn das alles aber nicht mehr möglich ist …
Hm, wann sollte es diese Jugend-Pillen noch geben …?