von Evelies Schmidt

Sankt Petersburg – Stadt zwischen Himmel und Wasser

Nr 219 | März 2018

25 24 23 22 21 … Der freundlich-grüne Countdown für Fußgänger an der Ampel läuft und garantiert ein geruhsames Über­queren der Straße zur Dreifaltigkeitsbrücke (Troizkij Most) hin. Selbstverständlicher digitaler Service einer modernen Metropole, die diese einzigartig gelegene, relativ junge Stadt mit großer, oft tragischer Geschichte und eindrucksvoller Architektur heute ist. Zeitschichten simultan zu durchwandern mit Auge und Ohr, mit den Füßen meistens auf Granit, dem unumstößlichen Stein, mit dem die Newa, die große wie die kleine, sicher eingefasst ist – dazu scheint Petersburg besonders einzuladen.
Rechterhand, noch am diesseitigen Ufer, der Sommergarten Peters des Großen, nach dem Vorbild Versailles geometrisch angelegt, mit seinen grünen Kolonnaden, den Springbrunnen, Büsten und allegorischen Statuen. Im Rücken das als Park angelegte Marsfeld. Und direkt vor mir jetzt die Dreifaltigkeitsbrücke, über die ich noch oft gehen werde; sie wird gewissermaßen mein Lieblingsübergang auf dem Morgen- und Abend­weg von und zu meinem vorüber­gehenden russischen Familien-Zuhause auf der Petrograder Insel.
In der abendlichen Rushhour stauen sich die Fahrzeuge. Lassen sich Autotypen und Insassen ausgiebig betrachten. Was die Marken und den Zustand der PKWs betrifft, könnte man sich auch in Hamburg oder Stuttgart wähnen. Einen Lada wird man im Zentrum Petersburgs kaum noch treffen.

Passend dazu das große Firmenlogo von Samsung leuchtend nach rechts hin, wo auch moderne Bauten zu erahnen sind. Nach links hinüber in der Ferne die spitze Ecke der Wassilij-Insel. Dort, wo sich der breite Fluss, den man an der Dreifaltigkeitsbrücke überblickt, in Kleine und Große Newa gabelt. In seinem verspielten Wellengang lässt er schon an den Finnischen Meerbusen denken, an dem «Russlands Fenster nach Europa» liegt.
In der Tat gibt es hier einen Strand – unterhalb der strengen Mauern der Peter- Paul-Festung (Ausgangspunkt der Stadt­gründung 1703), die, von ihrer goldenen Turmnadel überragt, ein weithin sichtbares Wahrzeichen ist. Es lohnt sich, einige Zeit an diesem Strand zu verweilen, um die Farben Petersburgs in sich aufzunehmen. Wirklichkeit und Fantastik einer Stadt, die bei aller ausgeprägten Architektur so sehr von Himmel und Wasser bestimmt ist.
Im Wechsel der Tageszeiten und Wetterverhältnisse nimmt die Front der Paläste am anderen Ufer ein je eigenes Gepräge an. Ihre Pastelltöne – Rosé, ein sanftes Ocker und das Pistaziengrün der Eremitage – kommen am besten bei mittlerem bis hellem Licht zur Geltung. Unter grauem Himmel färbt sich das Wasser zartblau bis perlmuttgrau und die Gebäude entrücken zu einer blassen Kulisse, die ein kunstfertiger Bühnenbildner aus Pappe errichtet haben könnte. Um welches Stück aufzuführen?
Nicht umsonst haben die großen russischen Dichter und Prosaschriftsteller Petersburg als Handlungsort menschlicher Zerreißproben gewählt. Wo sonst könnten Dostojewskijs früher Roman Der Doppel­gänger und sein berühmtester, Verbrechen und Strafe, passender spielen als eben hier – oder auch Gogols fantastische bis groteske Novellen. Diese Stadt ist eben keine «natürlich» gewachsene, sondern eine vom Zaren geplante, dem Sumpf (unter Opfer unzäh­liger Menschenleben) abgetrotzte. Und die Ahnung, dass ein unter der Oberfläche lauerndes Chaos diese schöne Welt samt ihrer linearen Ordnung wieder verschlingen könnte, war zu allen Zeiten gegenwärtig.

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Fotos: © Evelies Schmidt | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

«Ich lieb dich, Peters Werk, vor allen, / ich lieb dein Bild so streng und schlank ...» Das hymnische Petersburg-Bild, das Alex­ander Puschkin in seinem Poem Der eherne Reiter malte, sollte nach ihm keiner mehr finden. Und selbst bei ihm wird der arme Jewgenij in der Nacht vom Ehernen Reiter verfolgt. Dieses Standbild des Zaren Peter, das Katharina die Große vom französischen Bildhauer Falconet erschaffen und auf dem Senatsplatz errichten ließ, ist mehrere Blicke wert.
Am Strand der Peter-Paul-Festung westwärts gehend, hat man zunächst von der bald beginnenden Uferpromenade einen schönen Blick auf die goldene Kuppel der Isaaks­kathedrale mit der spitzen Nadel der Admiralität daneben. Über eine kleine Holzbrücke die Haseninsel verlassend und weiter am Wasser entlang gelangt man zur Börsenbrücke, die die Kleine Newa überquert, und damit auf jene spitze Ecke, die aus der Ferne schon von der Dreifaltigkeitsbrücke zu sehen war. Jetzt eröffnet sich der Charakter dieses Platzes, der vom mächtigen weißen Bau der Börse mit ihren Säulen dominiert und den zwei roten Rostralsäulen – Triumphzeichen errungener Siege auf See nach römischem Vorbild – markant geprägt wird. Hier macht die politische Gegenwart auf sich aufmerksam. Von den versammelten Souvenirständen flattern T-Shirts: Putin auf einem Bären reitend mit der Unterschrift «Vorwärts Russland», selbiger auf einem Pferd mit der Unterschrift «Uns holt man nicht ein».

Der Eherne Reiter ist nun nicht mehr fern. Nur noch auf der Schlossbrücke die Große Newa überqueren und dann rechts an ihrem Ufer entlang. Ein imposantes Herrscherbild der neueren Geschichte, dem ein altes Heiligenbild eingeschrieben ist. Die Hinterhufe des aufgebäumten Pferdes, das der Reiter sichtlich im Griff hat, halten eine Schlange nieder. In entschiedener Geste weist sein rechter Arm nach vorne. Doch was ist dort? Die Newa. Mit all seinem metallenen Gewicht scheint er zwischen Himmel und Wasser zu schweben. Ist es verwunderlich, dass Paare die Kulisse dieser Stadt für den entscheidenden Tag ihres Lebens wählen? Verschiedentlich kann man flanierenden oder posierenden Brautpaaren begegnen. Wer dies in ganzer Fülle und modernem Flair erleben will, gehe am «Palast der Eheschließungen» vorbei – einfach vom Ehernen Reiter weiter entlang der Newa Richtung Westen.
Doch bei diesem Eindruck wonnigen heutigen Lebens lässt Petersburg einen nicht lange verweilen. Auf der anderen Flussseite, über die Verkündigungsbrücke zu erreichen, ruhen zwei jahrtausendealte Zeugen aus fremdem Land und wirken dabei so, als seien sie für diesen Ort gemacht. Zwei Sphingen mit dem Kopf Amenhoteps III. wurden, wie die Inschrift am Sockel besagt, «aus dem alten Theben in Ägypten 1832 in die Stadt des heiligen Peter (Petrus) überführt», wo sie face à face an der granitenen Anlegestelle zu Füßen der Akademie der Künste wachen. Ein kleines Aperçu: Während meines einstündigen Aufenthaltes dort hielten ausschließlich Busse mit chinesischen Touristen, die das alte Ägypten in Petersburg entdecken wollten.

Und wo bleibt der legendäre Newskij Prospekt? Wenn Sie mit einer Reisegruppe unterwegs sind, werden Sie längst in die Eremitage eingekehrt sein. Von den Sphingen aus ist sie nach Osten hin am anderen Ufer der Großen Newa zu sehen. Geht man dort stadteinwärts, so eröffnet sich bald der prächtige Prospekt mit seinen vielen Restaurants und großartigen Geschäften. Der Newskij, seit jeher Herzstück und Zentrum des Handels der Stadt, ist ein Kapitel für sich.
Mit einem blühenden Geschäftsleben, vor allem in der zweiten Hälfte des neunzehnten und bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Viele architektonische Stilrich­tungen sind hier zu finden. Jedes Gebäude kann von der Geschichte seiner französischen, deutschen, holländischen und natürlich auch russischen Geschäftsinhaber erzählen.
Doch der Newskij bietet auch die Gelegenheit, drei der weiteren Wasserläufe zu überqueren, die die Stadt prägen: die Mojka, der Gribojedow-Kanal und die Fontanka. Mindestens bis zur Anitschkow-Brücke sollte man gehen und dann nach links an der Fontanka entlang. Denn im Fontannyj Dom (Fontänenhaus), dem langjährigen Zuhause der Dichterin Anna Achmatowa, befindet sich ein wunderbares Museum, das ein poetisches Universum auf vielerlei Weise erkunden lässt. In einem Gedächtnisraum für Joseph Brodsky bilden unzählige Ansichtspostkarten, aus den USA an den Vater geschrieben, eine Spur des Dichters ab, der sein geliebtes Petersburg nicht frei­willig verließ.

1 2 3 4 5 … Wohin strebt der Reiter? Die Begegnung europäischer Kulturen ist etwas Wunderbares. In Sankt Petersburg hat sie Tradition.