Christa Ludwig

Schiller für Wodka – Rilke für Slibowitz

Nr 219 | März 2018

Misstrauisch blieben Vorübergehende am Weidezaun stehen, wenn mitten in der Wiese zwei Jungen und ein Mädchen fordernd riefen: «Wodka!» – «Whisky!» – «Slibowitz!» – «Beaujolais!» Und erst, wenn die drei Jugend­lichen plötzlich von sechs Pferden umringt waren und jeder mit zwei Rössern am Halfter die Weide verließ, dämmerte den Passanten, dass die Alkoholsucht wohl eher bei den Pferde­züchtern zu vermuten war, die den Fohlen diese Namen gegeben hatten.
Es war in den späten 60er-Jahren, damals ritten noch mehr Jungen als Mädchen, also war ich das einzige Mädchen in der Gruppe, die für diese Pferde sorgte und sie täglich zur Reithalle hinüberritt, wo sie ausgebildet wurden. Die Pferde waren jung – Wodka und Slibowitz waren die jüngsten, eben ange­ritten, übermütigen Pferdekinder und noch keineswegs zuverlässig. So wunderten sich alle, dass ausgerechnet ich diese beiden besonders gern übernahm. «Du bist doch sonst so ein Schisser», sagte die Bereiterin verblüfft, «wie kommt es, dass gerade du mit den Dreijährigen so gut fertig wirst?» Ich antwortete nicht. Auf keinen Fall hätte ich ihr verraten, wie ich das machte. Ich hatte einen Trick.
Seit Jahren sammelte ich Gedichte und lernte sie auswendig. Mit 13 war Schiller mein Favorit, inzwischen war ich 16 und Rilke verfallen. Und seit Jahren sprach ich leise Gedichte vor mich hin, wenn ich die Pferde putzte. Mit der Wirkung rhythmischer Sprache auf die Tiere war ich also schon lange vertraut. Und das hatte ich inzwischen optimiert. Als die beiden Pferdekinder zu uns kamen, beobachtete ich sie genau.
Wodka war kohlrabenschwarz, eher klein, etwas grobknochig mit einem «Bollerkopp», viel zu langen Ohren und großen trampeligen Hufen, ein grundgutartiger Draufgänger. Slibowitz war ein sehr heller Fuchs mit großen, oft ängstlichen Augen und kleinen beweglichen Öhrchen, hochsensibel und schreckhaft. Wenn die beiden in der Stallgasse standen und plötzlich ein Mäuschen über den Boden huschte, verhinderte nur der Anbindestrick, dass Slibowitz nicht die Leiter hinauf bis zum Heuboden floh und Wodka mit einem fröhlichen Wiehern und einem überflüssig hohen Satz über die dösende Katze der Maus nachsprang. Darum entschied ich: Schiller für Wodka, Rilke für Slibowitz.
Auf dem Weg durch die Straßen und den Feldweg entlang ließ ich die Jungen vorausreiten und rezitierte unbemerkt Schiller­balladen, wenn ich Wodka ritt. Am effektvollsten war Die Bürgschaft. Wodkas große Ohren lauschten auf: «… da stürzet die raubende Rotte / hervor aus des Waldes nächtlichem Hort / den Pfad ihm sperrend und schnaubet Mord / … / und drei mit gewaltigen Streichen / erschlägt er, die andern entweichen …» Und er erkannte sich! Im Takt der Worte setze er seine Hufe und missachtete Autos, nach denen ein unerzogenes Pferdekind hätte ausschlagen können.
Slibowitz säuselte ich die frühen Verse des sehr jungen Rilke in die spielenden Öhrchen: «… ich liebe meines Wesens Dunkelstunden / in welchen meine Sinne sich vertiefen / in ihnen habe ich wie in alten Briefen / mein täglich Leben schon gelebt gefunden / und wie Legende weit und überwunden …» Der empfindliche Fuchs floss weich und rhythmisch an den Autos vorbei, vor denen er sonst scheute.
Slibowitz und Wodka errangen erste Turniererfolge und wurden verkauft. Ich flüsterte jedem zum Abschied einen Vers ins Ohr: «… gewinne das Ufer und eile fort …» für Wodka; «…sei ein Falke, ein Sturm, ein großer Gesang …» für Slibowitz. Ich habe beide nie wiedergesehen – und ich fürchte, sie haben nie wieder Schiller oder Rilke gehört.