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Iain Lawrence

Der Riesentöter

Nr 219 | März 2018

gelesen von Simone Lambert

Wenn der Frühling kommt, beginnt für Laurie die Zeit der Verbote: Sie darf nicht ins Schwimmbad, nicht auf den Spielplatz und nicht ins Kino, denn wenn es warm wird, werden die Polio-Viren aktiv. Lauries Vater, der für die Stiftung sammelt, die sich zum Ziel gesetzt hat, den Impfstoff gegen Kinderlähmung zu entwickeln, ist voller Angst, nach seiner Frau auch noch die Tochter zu ver­lieren. Laurie ist einsam und zieht sich in eine Fantasiewelt zurück. Bis Dickie Espinosa in ihre Straße zieht. Die Elfjährige freundet sich mit dem Achtjährigen an, sie spielen endlose Spiele. Doch eines Tages liegt Dickie mit Kinderlähmung im Krankenhaus.
Laurie besucht ihren Freund – heimlich, denn die besorgten Erwachsenen verbieten es ihr. Der Anblick der Kinder in den Eisernen Lungen schockiert sie. Und Dickie so zu sehen, der nun kaum noch die Fingerspitzen heben kann, macht sie traurig. Winzig wirkt er in der Eisernen Lunge, während der keuchende und zischende Blasebalg in dem riesigen Zylinder ihm die Atembewegungen aufzwingt. Doch Laurie läuft vor dem Schrecken nicht davon.
Sie lernt Carolyn und Chip kennen. Die Vierzehnjährige, die seit acht Jahren in der Eisernen Lunge liegt, ist verbittert. Es ist schwer für Laurie, Zugang zu ihr zu finden; sie fühlt sich unsicher und hilflos – bis Dickie sie bittet, eine Geschichte zu er­zählen.
Laurie erfindet das Märchen vom Riesen Colosso, der seine Umgebung drangsaliert, und von dem kleinen Jimmy, der dem Übel ein Ende setzen soll. Sie erzählt gefühlvoll, mit Sinn für Spannung und ohne Scheu vor harten, groben oder unsentimentalen Details. Carolyns zynische Kommentare schmerzen Laurie, aber sie lehren sie auch, sich in die Kinder einzufühlen. Tag für Tag erzählt sie ihnen nun die Abenteuergeschichte von Jimmy, dem Riesentöter, der einen langen, beschwerlichen Weg gehen muss, um seine Bestimmung zu erfüllen.
Die Geschichten beider Erzählebenen, die Iain Lawrence geschickt ineinander verflicht, nehmen eine uner­wartete Wendung, als Laurie als eine der ersten gegen Polio geimpft wird. Der Autor schreibt über ein dunkles Kapitel der Medizingeschichte: von den Polio-Epidemien, die bis zur Entdeckung des Antiserums 1955 in Amerika grassierten. Das hochansteckende Virus befiel vor allem Kinder. Die Seuche war oft tödlich; die Überlebenden befielen Lähmungen der Gliedmaßen mit Rückbildung der Musku­latur und schmerzhafter Verformung der Knochen, mitunter auch eine Lähmung der Atemmuskulatur. In diesem Fall wurden die Patienten in mechanische Beatmungsgeräte gesteckt, die Eisernen Lungen.
Lawrence schildert realistisch, was es für die Kinder bedeutete, in einer «Tonne» zu liegen, aus der nur der Kopf herausschaut, fühlen, aber sich nicht bewegen zu können, mit der Außenwelt nur durch einen Spiegel verbunden und beim Atmen von einer Maschine abhängig zu sein.
Laurie erzählt und versetzt die tapferen Patienten in den unbegrenzten Raum der Fantasie. Das gibt ihnen Kraft und Trost. Sie identifizieren sich mit den Figuren der Geschichte und erkennen im Riesen die Krankheit, die sie quält. Ihr Märchen erzeugt Solidarität, Mitgefühl, Freude und Freundschaft. Wenn sich die Kinder am Ende dieses ergreifenden Romans trennen, sind sie gereift, sie nehmen das Traurige und das Schöne ihrer Begegnung an. Dies ist das Buch eines großen Erzählers.