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Albert Vinzens

Freude, Lust und Fleiß

Nr 219 | März 2018

Wer leidet schon gern? Für mich ist schreiben oft leiden, doch insgesamt ist es einfach ein Lebensvorgang. Wie atmen, verdauen, einschlafen, aufwachen.
Früher hatte, wer schrieb, eine Lobby. Klöster, Mäzene, übermütige Verleger. Das ist vorbei. Dass selbst renommierte Autoren kaum vom Schreiben leben können, wird in der Gesellschaft so schmerzneutral hin­genommen wie die Tatsache, dass Konzernmanager, Topsportler und Medienstars im Jahr zweistellige Millionensummen erhalten.
Gesellschaftliche Ignoranz ist das eine, das Bild, das Autoren von sich selbst malen, das andere. Etwa Imre Kertész. Er gab einen Wink mit dem Zaunpfahl. Er sei Schrift­steller geworden, weil es bei ihm zu keinem Beruf gereicht habe. Oder Haruki Murakami. Er behauptete, Amateure, die in ihrem Leben mal ein Buch schreiben, brächten oft genug Besseres zustande als die Schriftsteller, die vor lauter Nachdenken über ihr Tun das Schreiben vergessen.
Hatte meine damals 95-jährige Urgroßmutter also doch recht? Als sie mich gegen Ende meiner Schulzeit einmal fragte, was ich denn nun werden wolle, faselte ich vom Schriftstellern. Sie sagte: «Bücher haben wir genug. Geh in den Wald. Dort gibt es wirklich zu tun!» So die Urgroßmutter. Und so auch die Eltern: Immer, wenn sie mich lesen oder schreiben sahen, lasteten Unverständnis und Unruhe auf mir. Ich habe, wenn auch spät, dennoch das Schreiben gewählt. Diese Kunst, dieses Glück, diese Zuversicht. Meine Entscheidung ist für mich richtig, wie es die Worte meiner Urgroßmutter auch sind.
Denken und Schreiben erlebe ich als Sinnbild der Melancholie. Nietzsches schwere schwarze Gallensäfte und sein großes Herz. Das hat einen Sog. Dieser Melancholiker und Moralist. Er musste einfach schreiben. Schreiben hat (für mich) mit Schwermut und (für viele) mit Moral zu tun. Wie schnell ver­derben Autoren den Lesern die Laune, wenn sie moralisch werden. Manchmal denke ich, wer Moral in seinen Knochen verspürt, sollte raus in die Welt. Mensch, Tier, Pflanze – alles schreit. Unüberhörbar. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht schlichten, helfen, lindern will. Ich durfte einmal mit Ruppert Neudeck zusammenarbeiten. Dieser Menschenfreund ließ das Schreiben sein und stürzte sich in die Welt, um zu retten. Er hat mich beeindruckt.
Wie es mir geht, wenn ich schreibe? Ich bin Weißer. Ein Exemplar westlicher Zivilisation. Ein Teil des vielleicht aggressivsten Menschenschlags, mit dem es unser Planet bisher zu tun bekommen hat. Wer erwartet von mir den literarischen Feinsinn eines Poeten? Wen kann ich mit meiner Sensibiltät beeindrucken? Wie kann ich schreibend moralische Verbindlichkeiten beweisen, wo doch mein Leben weiterhin mit all jenen Privilegien gespickt ist, die als Spätfolgen des europäischen Kolonialismus und Imperialismus längst entlarvt sind? Bleibt, wenn ich recht sehe, doch eigentlich nur der Katastrophenhelfer.
Über solche Dinge denke ich nach, wenn ich mich an den Schreibtisch setze. Und doch: Schreiben heißt, mit Freude, Lust – und Fleiß – am Vorankommen der Menschheit mitzuarbeiten. Heißt, mit anderen, die schreiben und geschrieben haben, verbunden zu sein. Ich lese und liebe ihre Werke. Viele von ihnen sind gescheitert. Sie gehören zur aussterbenden Spezies des ringenden, verzweifelten Menschen: Herman Melville, Aloysius Bertrand, Giacomo Leopardi, Antonio Porchia, Robert Walser, Friedrich Nietzsche, Ludwig Hohl. Ihr Stoffwechsel atmete die Wirkenergie des Geistes. Das galt für sie. Und das gilt für uns – mit oder ohne Lobby.