Denis Scheck im Gespräch mit Maria A. Kafitz

Kunst ist ein Überlebensmittel

Nr 221 | Mai 2018

Als Sechsjähriger wollte Denis Scheck, 1964 in Stuttgart geboren, eigentlich Archäologe werden. Heute ist er einer der bekanntesten Literaturkritiker des Landes und legt aus den rund 90.000 Neuerscheinungen pro Jahr in den Sendungen «druckfrisch» (ARD) und «lesenswert» sowie im «lesenswert quartett» (SWR) stattdessen Buchfunde frei. Seine Liebe zur Literatur begann früh, denn während andere in der Pubertät mit einer E-Gitarre in der Garage lärmten, gab Scheck bereits ein literarisches Magazin heraus. Schon damals hatte er «eine Affenliebe für Science-Fiction, Fantasy und Horror, wie man eben nur als Kind eine Besessenheit für etwas entwickeln kann». Dass etwas von dieser liebenden Besessenheit auch heute noch zu spüren ist, merkt man rasch, wenn man mit ihm über Literatur ins Gespräch kommt. Das Kind von einst steckt immer noch in ihm – nur trägt es heute einen Anzug mit kontrastierender Krawatte zu farblich abgestimmten Socken und hat auch daran eine schelmische Freude. Und so wundert es wenig, dass Schecks Bücher, ein Kanon, den er seit Anfang des Jahres im SWR Fernsehen, der Literarischen Welt und in WDR5 ver­öffentlicht, mit Astrid Lindgrens Karlsson vom Dach beginnt. Wir sind jedoch nicht auf einem Dach, auch nicht in einer Bibliothek, sondern in einem Museum verabredet.

Maria A. Kafitz | Lieber Denis Scheck, wir treffen uns zu unserem Gespräch im Kunstmuseum in Stuttgart zur Aufzeichnung der Sendung Kunscht, die Sie seit fast zwei Jahren moderieren. Das ist eine neue Spielwiese für Sie als «Herrn der Bücher», denn neben der Literatur geht es auch um die anderen Künste. Wie ist denn der Blick über den Buchrand hinaus?
Denis Scheck | Das ist natürlich ein Privileg. Man kann nämlich auch lesend verdummen, das darf man nicht vergessen. Es war eine wunderbare Fügung, dass mir, als ich beim Deutschlandfunk als Redakteur aufhörte, die Moderation der Sendung Kunscht angeboten wurde. Das habe ich mir, offen gestanden, immer gewünscht. Denn ich selbst bin ja niemand, der sich nur auf Literatur fixiert, sondern ich suche durchaus die Begegnung mit der Musik, der Malerei, dem Theater, der Oper. Letztere bedeutet mir immer mehr. Zudem ist es auch ein enormes Privileg, wie kürzlich etwa mit Claus Peymann, dessen Faust-Inszenierungen mich schon als Zehnjähriger fasziniert haben, für Kunscht ein kleines Gespräch über seinen King Lear am Schauspiel Stuttgart führen zu dürfen.

MAK | Zu Shakespeare haben Sie ja ohnehin eine innige Verbindung.
DS | Ich habe mich sehr mit Shakespeare beschäftigt. Er ist einer meiner drei Lebens­autoren, und er ist ein ganz gutes Beispiel für unser aller Kunstverständnis – oder vielmehr -unverständnis. Denn wir haben eine Vor­stellung von Shakespeare auf einem Podest. Aber Shakespeare, wenn Sie das Globe Theatre auf der South Bank von London sehen, hatte seinerzeit Konkurrenz, und zwar von zwei Seiten: die unglaublich beliebten Tierhatz-Arenen, wo wirklich Bären auf Hunde los­gelassen wurden und man wetten konnte, sowie die genauso beliebten Bordelle. Die zahlende Kundschaft zu Shakespeares Zeiten hatte quasi ihre Münzen in der Hand und fragte sich: Heute in die Tierhatz-Arena, heute ins Bordell oder heute ins Theater? Da muss sich ein Theater erst mal durch­setzen! So entstanden Shakespeares Stücke. Unglaublich! Shakespeare hatte also sehr viel eher etwas von Andrew Lloyd Webber als von Hölderlin. Die Vorstellung haben wir ein bisschen verloren, wie sehr Kunst mit Leben zu tun hatte. Ich beharre darauf, dass Kunst auch heute noch ein Lebensmittel ist. Das ist nicht nur was für die Freizeit.

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MAK | War das schon immer so für Sie oder ist diese Haltung erst durch Ihre Arbeit als Übersetzer, Literaturkritiker und Moderator einer Kunstsendung gewachsen?
DS | Für mich war Kunst schon als Kind das, was ich brauchte. Mich hatten meine Eltern ja aufs Land verschleppt, wo ich sehr unglücklich war, weil ich immer in die Stadt gehört habe. Damals gab es dort keinen Laden, es gab keine Kneipe, es gab keine öffentliche Nahverkehrsverbindung, man musste zwei Kilometer zur Bushaltestelle gehen. Für mich war Kunst, war Literatur immer eine Feile, mit der ich dieses Gefängnis verlassen konnte, in das mich meine Eltern eingesperrt hatten. Kunst ist wirklich ein Überlebensmittel! Und etwas von diesem Charme möchte ich in der Sendung Kunscht und auch in den Literatursendungen transportieren. Kunst ist nichts für nebenbei, sondern wir brauchen sie. Sonst dreht sich unser Leben ja nur ums Dosenpfand und die Mehrwertsteuer; dabei wird man ja verrückt! So kann man nicht leben in meinen Augen.

MAK | Das wäre in jedem Fall ein sehr reduziertes Leben, eher ein bloßes Existieren.
DS | Durchaus. Es ist ein Missverständnis, dass wir als Menschen zur Welt kommen. Wir müssen uns erst zum Menschen entwickeln – sonst bleibt man in einer Phase stecken und vergeudet sein Potenzial. Auch in diesem Sinne ist es natürlich ein Privileg, mit Anfang fünfzig noch etwas Neues machen zu dürfen, wie ich es in Kunscht und lesenswert tun kann.

MAK | In Ihrer profunden und doch kurzweiligen Literatursendung lesenswert bitten Sie Ihre Gäste, «drei Bücher des Lebens» mitzubringen und die Auswahl zu begründen. Irgendwann fallen ja alle Fragen, die wir stellen, auf uns zurück; demnach sind Sie jetzt an der Reihe: Shakespeare haben Sie schon genannt, wen haben Sie noch in Ihrem «Lebensbuchkoffer»?
DS | Ich habe drei Beseligungslektüren. Das sind Bücher oder Werke, die mich verlässlich wieder nach oben bringen, wenn ich down bin, denn auch das Leben eines Kunstmoderators und Literaturkritikers besteht nicht aus einer endlosen Kette von Siegen, Triumphen und Liebesbeweisen, sondern man kassiert da schon die eine oder andere Niederlage oder Ohrfeige, und dann muss man ja auch irgendwie weiterleben. Da bediene ich mich natürlich sehr wohl der Literatur in der Hoffnung einer Therapie oder um darin zumindest Trost zu finden. Außer Shakespeare – den ich immer lesen kann – gibt es einen zweiten Autoren, den ich recht früh kennenlernte. Als ich nämlich bereits als Jugendlicher das erste Mal zum damals berühmten Übersetzerstammtisch in Bad Cannstatt kam, erzählte mir der Übersetzer von Thor Heyerdahl, er habe sich zu Weihnachten einen Wunsch erfüllen lassen. Seine Frau habe ihm ein Buch geschenkt, das in mehreren Sprachen gleichzeitig geschrieben sei, das nur aus schweinischen Witzen bestehe und das so groß sei wie ein Atlas, aber viel, viel dicker. Und dieses verrückte Hyperbuch ging mir nicht mehr aus dem Sinn: Es war Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ich habe es dann von der ersten bis zur letzten Seite – es sind über 1300 – in der Württembergischen Landes­bibliothek im Lesesaal studiert. Und Arno Schmidt ist seither einer meiner Lebens­autoren. Ich halte ihn für den Allergrößten der deutschen Nachkriegsliteratur. Die dritte Beseligungslektüre ist natürlich Donald Duck in der deutschen Übersetzung von Dr. Erika Fuchs. Ich besitze sogar eine Spielwarenhandlung in Entenhausen! Ich bin dort ein Hund.

MAK | Sie besitzen was?
DS | Eine Spielwarenhandlung namens «Scheck» in Entenhausen! Damit hat es folgende Bewandtnis: Als ich als Redakteur beim Deutschlandfunk anfing, kam ich aus der Übersetzerecke und hatte dort in fast zwanzig Jahren sehr viele Freundschaften geschlossen. Und es gab da jene Heldin meiner Kindheit, die im Impressum jedes Mickey-Mouse-Heftes stand und die die Donald-Duck-Geschichten, die ich sehr liebe, so klug übersetzte. Diese Dr. Erika Fuchs einmal zu besuchen, war mir ein Pläsier. Und ich durfte mit ihr (sie wurde ja fast 100 Jahre alt) dann tatsächlich ein Interview führen. Sie hatte die Eigenheit, Menschen, die sie mochte – übrigens auch Menschen, die sie nicht mochte –, namentlich in ihren Geschichten zu verewigen. Nach ihrem Tod habe ich dann ein Album der Barks Library (Comicalbenreihe der Werke von Carl Barks, des Vaters der Disney-Comic-Figuren) für eine Zugfahrt gekauft, las vergnügt die meist einseitigen Geschichten und entdeckte die Antiquitätenhandlung «Kunst und Krempel P. Bahners». Patrick Bahners war nicht nur Feuilletonchef der FAZ, sondern auch die sogenannte «Präsidente» der Donaldisten, eines Vereins, dem ich nicht angehöre, weil ich nie in Vereinen bin. Glühender Neid durchfuhr mich. Dann blätterte ich um und fand die «Spielwarenhandlung Scheck», die Donald mit dem Satz im Schnabel betritt: «Mal seh?n, was der gute Scheck wieder auf Lager hat!» Da wusste ich: Nun, oh Unsterblichkeit, bist du ganz mein!

MAK | Eine wunderbare Geschichte! Mit der Sterblichkeit und der Angst davor wird dafür ordentlich Geschäft gemacht. Können Sie sich erklären, warum sich jeder Zweite eine Alarmanlage einbauen lässt, um sich sicher zu fühlen, und dennoch Krimis die Bestseller­listen dominieren? Sie stellen sie ja regel­mäßig und erfrischend schonungslos in Ihrer Sendung druckfrisch vor.
DS | Das ist die große Frage in Georg Büchners Dantons Tod. Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Das ist die Frage, die uns alle umtreibt: die Frage nach dem Bösen. Aber ein Blick in die Kriminalstatistik zeigt, dass Sie in neun von zehn Fällen nicht von jemandem umgebracht werden, der dunkel maskiert durch Ihren Garten schleicht und über die Terrassentür eindringt, sondern von einem Menschen, zu dem Sie mal «Liebling» oder «Schatz» gesagt haben. Das ist das Erschreckende! Und diese Erkenntnis wollen wir oft nicht wahrhaben, verorten das Böse deshalb gern im Fremden, im Draußen, im Asylbewerber usw., weil wir es nicht aus­halten, dass wir selbst es sind oder zumindest unsere Liebsten. Das ist natürlich literarisch ein spannendes Spielfeld. Was ich mir aber nicht erklären kann, ist, warum sich die Leute plötzlich am Regionalkrimi besaufen!

MAK | Vielleicht ist das ja ein lesbares Zeichen des überall aufkeimenden «neuen Biedermeier», der wieder die Herkunft und das Heimatliche betont? Doch wer in seiner eigenen Familie einmal genauer hinschaut, wer woher kam und wohin ging, der findet fast die ganze Welt darin.
DS | So ist es. Es gibt diese berühmte Szene im Film Des Teufels General. In dieser fragt Curd Jürgens einen Offizier, der zu ihm kommt und sagt, er könne nicht heiraten, weil er keinen arischen Nachweis zusammenbringe: Woher kommst du? Er kommt aus dem Rheinland. Dann extemporiert des Teufels General kurz, was denn «Rheinland» bedeutet. Da waren die Germanen, dann kamen die Römer, dann kam ein franzö­sischer Soldat mit Napoleon, dann ein russischer Soldat, dann noch jemand aus Polen, weil er hier als Wanderarbeiter war usw. «Und das alles ist in deinem Blut, und da sagst du mir, du hast keinen arischen Nachweis! Heirate, Mensch!» – Eine meiner Grundüberzeugungen ist: Das Schlimmste, was man als Idee haben kann – in der Kunst, wahrscheinlich aber im Leben selbst –, ist die Idee der Reinheit. Wir sind Bastarde, und Kunst ist eine Produktion von Vermischung – von kreativer Vermischung. Deshalb mag ich auch keine Genres, weil alles ein Resultat von Spannungselementen ist und retardierenden Momenten. Es funktioniert nicht, wenn ich glaube, dass es eine «E-Literatur», also eine «ernste Literatur», gibt und dann noch eine Unterhaltungs­literatur. Nein! Jede Art von Literatur muss unter­halten. Warum sollten wir sie uns denn sonst antun? Aber ich erwarte auch von jeder Art von Literatur, von jeder Art von Kunst, dass sie mich intellektuell stimuliert.