Andre Bartoniczek

«Tod, der Herz und Geist durchfährt»

Nr 221 | Mai 2018

Das schwierige Erbe des Dreißigjährigen Krieges

«Die Zeit ist aus dem Gelenk» – lässt Shake­speare seinen Hamlet sagen und überschreibt damit mehr als zweihundert Jahre Geschichte: die Pest im 14. Jahrhundert; drei Päpste, die gegeneinander Kreuzzüge führten, einer von ihnen war vormals Pirat; die Astronomie, die die Erde aus dem Zentrum der Welt herausrückte; die Infragestellung einer dogmatisch erstarrten Kirche; die zunehmende Auflösung aller moralischen und politischen Sicherheiten – eine Weltordnung zerfällt, und die Menschen stehen vor der Frage: Wie wird sich eine neue Ordnung bilden und welche Gestalt wird sie haben?
Diese historische Gärung trieb auf eine Eskalation zu, die zeigte, dass auf den epochalen Umbruch keine produktiven Ant­worten erfolgten: Europa stürzte in einen dreißigjährigen Krieg, der unvorstellbare Verwüstungen und Traumata hinterließ.
Der Sturz der beiden kaiserlichen Statthalter und ihres Sekretärs am 23. Mai 1618 aus dem Fenster des Hradschin war ein Signal: Man wollte sich keine Konfession aufzwingen lassen, wollte schreiben können, was man dachte, und sich frei versammeln – ein offener Widerstand gegen eine fremde (habsburgische) Macht, die immer noch beanspruchte, die Krone Böhmens zu tragen. Das Individuum rebellierte gegen die traditionellen, übergeordneten Autoritäten der universalen Geistlichkeit und Politik.

Aber: Es lassen sich keine notwendigen Gründe finden, warum aus diesen böhmischen Ereignissen ein internationaler Krieg hervorgegangen ist. Es gibt keine lückenlose, zwangsläufige Auswirkung des deutschen Verfassungskonfliktes auf die Politik der europäischen Großmächte. Die Ursachen des Krieges liegen nicht in Böhmen, sondern in den Antrieben der Menschen, d.h. in den Intentionen der europäischen Verantwort­lichen, die in dem Territorium des Deutschen Reiches ein Gefäß für die Realisierung der eigenen Ambitionen fanden: Die Niederlande kämpfte um ihre Anerkennung als souveräner Staat, Spanien wollte die Abspaltung verhindern und kämpfte um seine angestammte, universale Einheit und Autorität; in Frankreich bereitete Richelieu einen modernen, ohne Einmischung adeliger Einzelinteressen geführten Machtstaat vor; Dänemark, Schweden, Polen und Russland konkurrierten um die Vorherrschaft über die Ostsee – und in allen Fällen suchte man Bundesge­nossen im Reich und unterstützte sie. Dort formierte sich wiederum im selben Moment die Frage nach der Zukunft der Kaiserkrone: Worin würden Gestalt und Aufgabe des Deutschen Reiches bestehen?
Bei genauerem Hinsehen sind es also keine religiösen Motive, die das Kriegsgeschehen ausgelöst haben. Das katholische Frankreich verbündete sich aus strategischen Gründen mit einigen protestantischen Parteien, das lutherische Sachsen mit dem Kaiser, Gustav Adolf trat in Deutschland vor allem deshalb als protestantischer Glaubenskämpfer auf, weil er damit seinem schwedischen Staat strategisch zu Stabilität und Macht verhalf. Die theologischen Diskussionen über Abendmahl und Prädestination waren der Vorwand, handfeste materielle Interessen durchzusetzen: Es ging um das Einkassieren des säkularisierten klösterlichen Grundbe­sitzes, um die Vorherrschaft über den Handel an der Ostsee, um die Macht der Kurfürstenwürde (zwischen Pfalz und Bayern) und letztlich um die politische Vormacht in Europa.

Es ist der Egoismus des Einzelnen, der sich in dem Geflecht der europäischen Interessen ausdrückt, geradezu verkörpert in einer bis heute faszinierenden Gestalt:
Albrecht von Wallenstein – ein äußerst widersprüchlicher Charakter, der mit keinen Begriffen der damaligen Zeit zu fassen ist, ein Rätsel und gerade darin ein moderner Mensch. Wenn Schiller ihm die Worte in den Mund legt: «Innen im Marke lebt die schaffende Gewalt, die sprossend eine Welt aus sich geboren», so hebt er gerade dieses Bild einer sich selbst bestimmenden Individualität hervor. Die Epoche ruft nach Individualisierung, die aber zur Zersplitterung gerät: Der Protestantismus zerfällt in gegenseitig sich bekämpfende Parteien, die großen unter den 2000 Ständen des Reiches wollen eigene Staaten werden, Europas Großmächte profilieren sich durch Entgegensetzung – das 17. Jahrhundert zeichnet ein erstes Bild eines Krieges aller gegen alle.
Das immer wieder willentlich ver­längerte Ausleben der Einzelinteressen verselbstständigte sich schließlich zu einer hemmungslosen Eskalation der Kriegs­führung. Man kennt die Bilder von den Gewaltexzessen auf dem Land oder von der vollständigen Zerstörung Magdeburgs 1631, von Folter, Vergewaltigung, Mord, Hunger und Kannibalismus. Zeitgenössische Dichter haben aber noch auf eine andere Dimension der Zerstörung hingewiesen. Martin Opitz schrieb: «Ein jeder ist verzagt. Eh’, als der Feind noch kommen / da hat die Furcht schon viel Örter eingenommen / und Oberhand.» Andreas Gryphius, der feststellt, seit «Menschen­gedenken, ja so lang die Welt gestanden, dergleichen nie gesehen und erhört» zu haben, formuliert: «Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod, / Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot: / Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.» Angst und seelische Gewalter­fahrungen haben die Menschen innerlich nachhaltig traumatisiert.

Die politischen Intentionen dieses Krieges und die durch ihn verursachte Gewalt standen in keinem Verhältnis mehr zueinander – hier hatte die Vernichtung ein Ausmaß angenommen, das durch nichts mehr moralisch zu legitimieren war. Anders als z.B. in den Perserkriegen der Griechen, in denen es um die Verteidigung eines zahlenmäßig unterlegenen Volkes und seiner gerade errungenen Kultur der Demokratie ging, begegnet hier nun ein Krieg, der schlicht von Sinn­losigkeit geprägt ist – wie auch schon seine Verantwortlichen bemerkt haben, denen wiederholt die Gründe für ihr Tun unklar geworden waren (z.B. Kurfürst Georg Wilhelm von Brandenburg an den Kaiser: Es «ist mir die eigentlich ursach dieses Krieges unbewusst»).
Der Westfälische Frieden bestätigte die Souveränität der Territorialherren und die Spaltungen des westlichen Christentums.
Ein Drittel der Bewohner des Reiches war dahingerafft – der Krieg hinterließ in der Mitte Europas ein Vakuum. Die alte Welt konnte es nicht mehr füllen, ein von konventionellem Glauben sowie von Aberglauben in Form von illusionärer Astrologie, Geisterbeschwörungen, Hexenverbrennungen u.v.m. ge­prägtes Geistesleben jener Zeit auch nicht – dieses dreißigjährige Zerstörungswerk erscheint wie eine Aufforderung an unsere eigene Zeit, angesichts von Gewalt und sinnentleerten Gesellschaftsformationen sich der Herausforderung einer schöpferischen sozialen Ideenbildung zu stellen.