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Jean-Claude Lin

Was schlummert im Verborgenen

Nr 222 | Juni 2018

«Um den Namen Tief-da-unten verstehen zu können, muss man bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückgehen, in die Zeit der Abenteurer und Pioniere. Denn damals trug es sich zu, dass ein Engländer namens
Archibald Ward auf seiner Forschungsreise durch die Appalachen auf ein tiefes Tal stieß, das geborgen zwischen den Bergrücken lag, und zwar in der Gegend, die später unter dem Namen West Virginia bekannt wurde.
‹Das ist ideal›, sagte Archibald zu sich selbst. ‹Ich hole meine Lieben und gründe hier eine Ansiedlung.›
Als er in die Zivilisation zurückkehrte, an die Ostküste, wo seine Familie wartete, fragten die anderen Leute Archibald nach der Gegend aus, die er entdeckt hatte, denn sie erwogen, ihm möglicherweise in das
unbesiedelte Land zu folgen.
‹Was ist das für ein Flecken Erde?›, fragten sie ihn.
‹Das Holz ist hell, der Boden schwarz, und es fließt ein Flüsschen durch›, berichtete Archibald. ‹Und es liegt ganz natürlich geschützt wie ein Nest tief da unten in einem engen Tal.›
Die Leute folgten Archibald Ward und gründeten einen Ort in dem Tal tief da unten zwischen den Bergen. Die Bezeichnung Tief-da-unten blieb hängen, doch im Verlauf der Jahre sagte man abkürzungs­halber oft nur Tief-unten. Der Wasserlauf wurde Tief-da-unten-Fluss genannt, aber da das doch etwas zu umständlich war, wurde er einfach zu Tiefer Fluss abgekürzt. Genaugenommen war der Wasserlauf jedoch in keiner Weise tief und eigentlich auch kein Fluss. Er war ein armseliges Rinnsal.
Um 1840 baute der vierte Archibald Ward eine Pension in Tief-unten, der er den Namen Zuflucht gab. Einhundert Jahre später befand sie sich immer noch in derselben Familie, als sie nämlich von Miss Arbutus Ward nach dem Tod ihres Vaters übernommen wurde. Miss Arbutus war sein einziges Kind und die Letzte der Wards, die es im Städtchen noch gab. Sie hatte schon in der Zuflucht ausgeholfen, als sie kaum groß genug war, um über den Rand des riesigen Esstischs aus Eichenholz zu spähen. Ein anderes Leben kannte sie nicht.
Miss Arbutus – man muss es leider einräumen – war unscheinbar und reizlos. Das sagten alle. Und keiner wusste genau, wie alt sie war – wahrscheinlich etwas über dreißig. Die Stadtbewohner nannten sie eine alte Jungfer, allerdings benutzten sie diesen verächtlichen Ausdruck nie in ihrer Gegenwart. Sie hatte Tief-unten nur in ihrer Kind­heit
ein paar Mal verlassen, als Erwachsene nie. Die Zuflucht war ihr lieber als jeder andere Ort auf Erden, und am wohlsten fühlte sie sich, wenn sie dort war.»

So beginnt der bezaubernde Roman von Ruth White um die kleine rothaarige Ruby, die an einem Sonntag im Juni vor dem Gerichtsgebäude im kleinen Ort «Tief-da-unten» gefunden wird und bei Miss Arbutus eine neue Heimat – ein Zuhause findet, bis sie 12-jährig auf die Spur ihrer eigentlichen Herkunft kommt … «Tief da unten, Fabel und Krimi zugleich, ist ein Buch, dessen Zauber man sich einfach nicht entziehen kann … In heiteren und leichten Tönen zeichnet es die wahren Wege, die nur das Herz kennt. Dieser Roman ist bislang der beste aus der Feder von Ruth White.»
Das schreibt Lee Smith, Autorin der Romane Last Girls und Agate Hill, über das Buch ihrer Schriftstellerkollegin Ruth White. Ja! Dieser Roman ist tatsächlich mit dem Herzen geschrieben – und er macht für uns Lesende spürbar, wie viel in jedem Menschen «tief da unten» als Verborgenes schlummert und auf Erlösung und Ent­faltung wartet.