Bella ist gerade noch rechtzeitig durch die Passkontrolle gekommen und hetzt mit ihrer Fotoausrüstung zum Gate. In 20 Minuten geht ihr Flug nach Athen. Fahrig winkt sie mit einem Handkuss noch einmal Anton und ihren drei Kindern Jule, Tom und Ida zu, bevor sie um die Ecke verschwindet. Damit tritt Bella in den anderen Teil ihres Lebensalltags ein: Sie ist eine gefragte Fotografin, die zu einem Shooting für die nächste Sommerkollektion eines großen Modeunternehmens nach Griechenland fliegt. Manchmal kann sie es gar nicht fassen, dass ausgerechnet sie die Zusage auf die Ausschreibung als Modefotografin bekommen hat.
Noch vor drei Jahren war Bella quasi «Vollzeit-Mutter» und «-Hausfrau» in ihrer fünfköpfigen Familie, auch wenn sie zusätzlich stundenweise in einem Fotostudio gearbeitet und immer mal wieder kleinere Aufträge gehabt hatte. Ausgeglichen fühlte sie sich damit jedoch nicht! Nach vielen Jahren Familienarbeit hatte sich in ihr eine Unzufriedenheit breitgemacht, die besonders Anton zu spüren bekam. Manchmal fühlte sie sich wie ein aufgeblasener Luftballon kurz vorm Platzen.
Mit der Einschulung von Ida war es dann soweit! Bella hörte einen Vortrag zum Thema «Biografiearbeit». Als die Referentin über «Stauungsphänomene in der Biografie» sprach, dachte Bella, sie spreche von ihr.
Ja, sie hatte sich in den letzten 12 Jahren ganz auf das Muttersein und die Familie eingelassen – voll Freude und Hingabe, aber auch nicht ohne die Frage, wofür sie eigentlich ihren tollen Beruf als Fotografin gelernt hatte. Immer wieder verspürte sie Impulse, die sie zurückdrängen musste. Aber sie hatte in der Familienzeit in den Kindern natürlich auch die besten Fotomodelle und die Zeit außerdem für Fortbildungen genutzt. Jetzt spürte sie immer deutlicher, dass ihr beruflicher «Lebensfluss» durch die Familienjahre wie durch eine Staumauer eingegrenzt worden war und nun mit neuer Kraft zum Ausdruck kommen wollte Dazu müsste sie die Mauer öffnen, denn sonst würde ihre Energie mit brachialer Gewalt «über die Ufer» treten und Schäden anrichten, die das Familienleben gefährden könnten.
Anton konnte Bellas neue Erkenntnis nachvollziehen, wenngleich ihm ihre zielstrebige Art auch ein wenig Angst machte. Was würde die Übernahme eines Fotostudios und die damit verbundene Selbstständigkeit für ihn bedeuten? Wie würde sich das auf ihre Beziehung und die Kinder auswirken? Doch diese Fragen gehören heute bereits der Vergangenheit an. Alle mussten sich ganz schön umstellen, denn wenn sich einer im Familiensystem verändert, ändert sich die ganze Dynamik. Sie hatten gerade eine Haushaltshilfe eingestellt und eine Mitarbeiterin im Fotostudio gefunden, als Bella die Zusage der Agentur fürs Shooting in Griechenland erhielt. Seitdem hat ihr Fluss noch an Kraft und Schnelligkeit zugenommen, sodass sie fast gar nicht hinterherkommt. Anton freut sich für Bella, denn er schätzt ihre ästhetischen Fotos sehr. Doch ist er hin und wieder besorgt um ihr Familienleben, denn das muss sich in Stoßzeiten nach Bellas Aufträgen strecken. Aber er spürt auch eine tiefe Dankbarkeit gegenüber seiner Partnerin, die ihm zuvor im Berufsleben stets den Rücken gestärkt hat.
Jule, Tom und Ida genießen die «Papa-Zeiten» und vermissen gleichzeitig ihre Mama. Das abendliche Skypen hilft ein wenig über den Schmerz hinweg. Am meisten freuen sich aber alle auf den nächsten Fotoauftrag, denn der liegt in den Ferien und geht für die nächste Winterkollektion für die gesamte Familie nach Norwegen in den Schnee. – Und Bella? Sie genießt das Reisen und die Herausforderung – sehnt sich manchmal dennoch nach ein bisschen mehr Staumauer zurück!