Das Ereignis der Begegnung

Nr 224 | August 2018

«Mein Lieblingswort ist Sehnsucht», antwortet die Fernseh-Journalistin Dunja Hayali in unserem Gespräch auf die Frage «Ankommen oder weggehen?». Und in unserer Reportage lesen wir, dass für die Künstlerin Ilona Krieg «Denkweise, Wirkungsarten und Sehnsuchtsorte» in eins fallen. Im Wirken und Trachten beider so unterschiedlicher Frauen spürt man die Sehnsucht nach dem, was der Kunstwissenschaftler Michael Bockemühl in der Betrachtung der Entwicklung der Porträtmalerei bei Rembrandt als deren wesentliches Merkmal ausmachte: das Ereignis der Begegnung zum Erscheinen zu bringen, erlebbar zu gestalten.
Eine Begegnung, muss ich gestehen, habe ich in meinem bisherigen Leben versäumt. Hätte meine Kollegin Maria A. Kafitz mich vor die Alternative gestellt: «Philip oder Patrick Roth»?, hätte ich nur «Patrick» antworten können. Seine 1991 erschienene Christusnovelle Riverside hat mich gleich beim Erscheinen tief beeindruckt. Dagegen habe ich bis zum heutigen Tag, zwei Wochen nach dem Tod des «Great American Novelist» Philip Roth am 22. Mai 2018, immer noch kein einziges Werk von ihm gelesen. Zwar las ich alljährlich im Herbst, wie man erwartete, dass er endlich den Nobelpreis für Literatur erhalte, doch ein eigenes Bedürfnis oder gar eine Sehnsucht, dem Autor von Portnoys Beschwerden selbst näher in seinen Büchern zu begegnen, spürte ich nicht.
Erst jetzt macht sich eine Sehnsucht bemerkbar, wenn ich bei Benjamin Markovits in seinem Kommentar im Times Literary Supplement vom 1. Juni über den Tod von Philip Roth lese, wie er jedes Jahr mit seinen Studenten im Kreativen Schreiben den ersten Roman Goodbye, Columbus des großen Amerikaners durchnimmt. «Goodbye, Columbus ist ein großartiger Roman», schreibt Markovits, «ganz ähnlich und doch anders als alles andere, was er später schrieb. Wie die meisten seiner Bücher behandelt es eine einfache wie auch sehr schwierige Frage: Was erwartest du von denen, die du liebst?» Beziehungsweise vielleicht genauer: Was willst du von diesem Menschen, in den du dich so verliebt hast? Am Ende seines Nachrufes fasst Markovits das Leben und schriftstellerische Wirken Philip Roths zusammen: «Jede neue Phase seines Lebens und Berufs als Schriftsteller brachte ihm neues Material, und jedes seiner Bücher scheint sagen zu wollen: Dir geschieht gerade jetzt etwas, worüber du entschieden und besser nachdenken solltest. Sei aufmerksam.»
Denken auch wir immer entschiedener und besser über unser Leben nach, liebe Leserin, lieber Leser! Seien wir aufmerksam!

Von Herzen grüßt Sie,
Ihr

Jean-Claude Lin