Jean-Claude Lin

Unerhört lebensnah und tiefsinnig

Nr 224 | August 2018

Rembrandts Einladung, zu sich selbst zu kommen

Das Mädchen schaute zum Bild hoch. «Mama, was ist mit seiner Hand?», fragte es noch, als es mit seiner Mutter den Saal verließ.
Wenig länger als vier Wochen, bis zum 15. Juni 2018, sollte der «neue Rembrandt» in der Hermitage in Amsterdam zu sehen sein, in einer Sonderausstellung zusätzlich zu der großen Ausstellung der Niederländischen Meister aus dem überaus reichhaltigen Fundus der Eremitage in Sankt Petersburg, die vom 7. Oktober 2017 bis zum 27. Mai 2018 besucht werden konnte. Der «neue Rembrandt» ist das Porträt eines jungen Mannes, das der 1978 geborene junge Kunsthändler Jan Six im Londoner Auktionshaus Christie’s im Herbst 2016 entdeckt und erworben hatte.
Das Gemälde hat die Maße 94,5 x 73,5 cm, seine Entstehung lässt sich, ins­besondere anhand der nur kurze Zeit Mode gewesenen ausladenden und aufwendig be­arbeiteten Kragenspitze des Porträtierten, auf das Jahr um 1634 datieren. Der 1606 in Leiden geborene Rembrandt Harmenszoon van Rijn muss also rund 28 Jahre alt ge­wesen sein, als er es malte; seit dem Jahr 1631 war er in Amsterdam tätig. Dass heutzutage aufs Neue ein Gemälde Rembrandt zugeschrieben wird, grenzt an ein Wunder: Die Kunsthistoriker haben die Anzahl genuiner Rembrandt-Bilder mit ihren fortwährend verfeinerten Mitteln drastisch reduziert.

1916 kam Hofstede de Groot auf 744 Gemälde, 1935 Abraham Bredius auf 640 Nummern in seinem Werkkatalog, Horst Gerson schließlich im Jahr 1968 auf 420, wie Claus Grimm in seinem Buch Rembrandt selbst. Eine Neubewertung seiner Porträtkunst (Belser Verlag, 1991) zusammenfasst. Damals erwähnte er noch, wie die Forscher des Rembrandt Research Project die Anzahl der von Rembrandt eigenhändig gemalten Werke auf nur 230 herabstuften. Einer an dem renommierten, von vielen Museen der Welt gefürchteten Rembrandt Research Project Be­teiligten war Ernst van de Wetering, der nun zum gleichzeitig auf Niederländisch wie Englisch erschienenen Buch von Jan Six, Rembrandt’s Portrait of a Young Gentleman, das Vorwort geschrieben hat. Nach all den materialtechnischen, stilistischen und im Zuge der Restaurierung vielschichtigen Untersuchungen ist er, wie auch eine größere Anzahl weiterer Experten, zu dem Urteil gekommen, das Bildnis eines jungen Mannes, 1634, sei wohl als Werk von Rembrandt selbst anzusehen. Ja – so van de Wetering – es müsse zu den «besten Porträts unter seinen Meister­werken» gezählt werden.
Wie der Privatdozent für Kunstgeschichte Stefan Trinks in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Mai 2018 darstellte, wird diese Sicht nicht unangefochten bleiben, zumal das für etwa 156.000 Euro erworbene Gemälde als «echter» Rembrandt für viele Millionen Euro weiterverkauft werden könnte … Doch, was sehen wir selbst?

Ein junger Mann, vielleicht um die zwanzig Jahre alt, von vornehmer Herkunft, gezeigt in dem fast das halbe Bild einnehmenden satten Schwarz des samtenen Umhangs, der feinen, die beiden Schultern ganz bedeckenden Kragenspitze und dem weißen Ärmel. An der einzig sichtbaren, aber doch verhüllten linken Hand ist noch ein aus weichem beige-grauem Leder gefertigter Handschuh. Von dem uns als Betrachter zugewandten, von oben links warm angeleuchteten Gesicht mit seinem ins Offene gerichteten, nachsinnenden Blick und den lebensvollen, leicht geöffneten roten Lippen gleitet der Blick des Betrachters an der Schulter und dem linken Arm hinab zur Hand im Handschuh …
Warum dieser Handschuh? «Mama, was ist mit seiner Hand?», fragte das Mädchen. Äußerlich scheint der Handschuh noch von Leben geprägt: Man sieht, wie die Spitzen durch den Vorgang des Ausziehens flach gedrückt sind. Doch insgesamt und kontrastierend zum Ganzen erweckt gerade dieses Detail den Eindruck von etwas Totem, Abgestorbenen, Unbelebten. Wer ist dieser junge Mann? Und, wenn die Vermutung von Ernst van de Wetering stimmt, dass wir hier nur vor einem, wenn auch großen Teil eines viel größeren Doppelporträts stehen, wie es hin und wieder anlässlich einer Eheschließung in Auftrag gegeben wurde – warum wurde dieser Teil abgetrennt? Oder warum der andere? Und: Wie sah er aus? Werden wir je wissen, wie die Frau aussah, die mit diesem jungen Mann einmal verbunden war? Ist er früh gestorben? Und hat sie wieder geheiratet? Wurde deshalb das große Doppelporträt auseinandergenommen? Und weiterhin: Hat Rembrandt den frühen Tod des jungen Mannes geahnt, gefühlt, und ihn deshalb mit angezogenem Handschuh gemalt, statt diesen frei in der Hand haltend, wie er es sonst einige Male tat? Über alle konventionellen Porträts der damaligen Zeit hinausgehend und ganz in der Linie seiner großartigsten Porträts erzählt oder deutet Rembrandt hier eine Geschichte an – die Geschichte eines ganz konkreten Menschen, eines, der auf dem Weg ist, zu sich zu kommen. Da er, wie auf nur sehr wenigen in dieser Zeit gemalten Porträts, nicht als ein Fertiger, Abgeschlossener dargestellt wird, sondern als jemand, dessen Lebensgeschichte man weiter verfolgen, dessen Eindruck auf einen selbst man ver­tiefen möchte.

Wie anders ist das etwa 20 Jahre später entstandene Bildnis eines alten Mannes in Rot (108 × 54 cm), das aus der Eremitage in Sankt Petersburg für einige Monate nach Amsterdam ausge­liehen war! Ganz in sich ruhend, frontal dem Betrachter zugewandt, die Hände frei ineinandergreifend, der Blick ebenso nach­sinnend, aber das abgelaufene Leben be­fragend … so «unerhört lebensnah und tiefsinnig», wie Claus Grimm die wesentliche Eigenschaft der Porträtkunst Rembrandts bezeichnet.
Selbst ein langes Leben kann die Geschichte eines menschlichen Lebens nicht ausloten. Und das Leben eines jeden birgt so viele tiefe Geschichten! Wie können wir sie sehen und wahrnehmen lernen?
Ein anderer Kenner der Wunder der Kunst, der 2009 verstorbene Kunstwissenschaftler Michael Bockemühl, weist in seinem Buch Rembrandt 1606 – 1669. Das Rätsel der Erscheinung (Benedikt Taschen Verlag, 1991) auf eine Aufgabe für den Betrachter hin, die er bei Rembrandt schätzen gelernt hat: «Durch Rembrandts Malweise bekommt der Betrachtende eine konstitutive Rolle zugewiesen. In diese Malerei, die das Erscheinen bewusst macht, und nicht den Eindruck einer zu Ende gekommenen Erscheinung erweckt, ist in hohem Maße dem Betrachtenden anheimgestellt, was im Bild zu erkennen ist, weil die genannten anschaulichen Prozesse insgesamt darauf angewiesen sind, dass er sie tätig hervorbringt. Lässt er sich auf diese Vorgänge nicht ein, so treten sie nicht in Erscheinung. … Das Gewahrwerden des Lebens im Bilde, das Gewahrwerden des Erscheinens ist eine Begegnung mit den produktiven Kräften des eigenen Anschauens. Im Anschauen liegt das Rätsel der Erscheinung, an das Rembrandts Kunst heranführt.»