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Markus Sommer

Der Schwefel

Nr 224 | August 2018

oder: Die Kunst der Umwege

Schwefel ist zwar ein absolutes Nichtmetall, aber die Metalle und er haben eine tiefe Neigung zueinander. Im Alltag ist Schwefel sehr präsent. Wo er als reine Substanz in der Natur auftritt, sind Unordnung, ja Krawall, Umsturz und Veränderung nicht fern. Zum Schwefel passt auch das Element der Abschweifung. So flechte ich hier eine kleine Skizze einer Persönlichkeit ein, deren Leben mir näher bekannt ist und in der ich Wesenszüge des Schwefels zu erkennen meine.
Ein Großvater meiner Frau, Sverre E. Jensen, scheint mir so eine «schwefelartige» Persönlichkeit gewesen zu sein. Er entstammte einer norwegischen Kaufmannsfamilie, die in der Hauptstadt Oslo mehrere Geschäfte besaß. Die Neigung des jungen Mannes, sich zu regelmäßigen Arbeitszeiten hinter Geschäftsbücher zu setzen, war aber offenbar nicht sonderlich groß, jedenfalls findet man ihn als 19-Jährigen nicht im Kontor, sondern als Mitglied der norwegischen Fußballmannschaft bei der Olympiade in London. Und auch anschließend kehrt der blendend aussehende junge Mann nicht ins Familienunternehmen zurück, sondern vertreibt sich seine Zeit erst einmal in England und Frankreich, wo er offiziell Sprachstudien nachgeht, dann jedoch vom ausbrechenden Ersten Weltkrieg zur Rückkehr gezwungen wird. Jetzt muss er ins Geschäft eintreten, und so richtig froh scheint er damit nicht geworden zu sein.
Die steigende Verantwortung wird ihm zur Bürde, er bekommt Herzbeschwerden, und ich stelle mir vor, dass er nicht unglücklich war, als ihm vom Arzt zu einer Pause und einer Unterbrechung seiner Tätigkeit geraten wurde. So konnte er sich auf eine Reise in die Welt machen. Diese sollte natürlich auch von Nutzen für das Familienunternehmen sein, und so knüpfte der Reisende Kontakte zu Produzenten von Konserven aromatischer Südfrüchte, die man in Skandinavien damals kaum kannte. Mir ist nicht bekannt, ob die norwegische Küche, die damals noch neben dem Fleisch von Walen und Elchen von Hering, Kartoffeln, Karotten und Kohlrüben geprägt war, schließlich durch den jungen Kaufmann erfolgreich um Ananas und Orangen be­reichert wurde. Bekannt aber ist, dass er schließlich von San Francisco aus als ungelernter Schreiner und Elektriker auf einem Holzfrachter anheuerte, der nach Japan reisen sollte. Unterwegs wurde die Route jedoch geändert, und so landete er schließlich in Shanghai, der zur damaligen Zeit «aufregendsten Stadt der Welt». Sie war berühmt für ihre mondänen Hotels und Clubs – und diese wiederum dafür, dass dort die aktuellste (Jazz-)Musik gespielt wurde.
Die Heimkehr nach vier Jahren Abwesenheit erweckte starke Emotionen und Entschlüsse. Schon nach wenigen Tagen fand er beim Schlittenfahren eine schöne Braut, und bereits eine Woche nach der Verlobung waren die beiden verheiratet und schon bald auf dem Weg nach Shanghai. (Auch hier ist der Gedanke an den Schwefel naheliegend, da er schnell und «unbekümmert» chemische Verbindungen eingeht). Die Briefe, welche die frischgebackene Ehefrau an ihre Eltern in der Heimat schrieb, geben ein beeindruckendes Bild von dem Luxus, der sie in der asiatischen Metropole erwartete. Abendliche Einladungen zu rauschenden Bällen waren ihr so selbstverständlich wie die chinesischen Bediensteten im eigenen Heim.
Als sich dann herausstellte, dass in China gesellschaftlich nichts bleiben würde, wie es gewesen war, und die Zeit europäischer Kaufleute in der Stadt endgültig vorbei war, reiste schließlich auch er – wirtschaftlich gescheitert – 1938 zurück, um in eine eher beschauliche (und streckenweise wohl auch bedrückte) Lebensphase einzutreten, die nicht zuletzt davon geprägt war, dass 1940 die deutschen Besatzer in Norwegen ein­marschierten. Einen Höhepunkt muss es für ihn aber noch gegeben haben, als der König selbst ihm eine Goldmedaille verlieh, in Anerkennung seines Einsatzes für die Rettung vieler norwegischer Landsleute, um die er sich während der politischen Querelen in China gekümmert hatte.