Andres Veiel im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

2028. Welche Zukunft?

Nr 225 | September 2018

Wer sieht nicht gerne Filme und lässt sich etwas erzählen? Der Regisseur und Drehbuchautor Andres Veiel versteht es, sowohl seine dokumentarischen Filme (beispielsweise den u.a. mit dem Deutscher Filmpreis ausgezeichneten über den Künstler Joseph Beuys) als auch seine Spielfilme vielschichtig und spannend zu erzählen. In «Black Box BRD» porträtierte er den früheren Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der 1989 ermordet wurde und im Visier der Terrorgruppe RAF stand, und den RAF-Terroristen Wolfgang Grams, der 1993 bei einem Schusswechsel mit der Polizei starb. Das Thema RAF setzte Andres Veiel auch 2011 in seinem Spielfilm «Wer wenn nicht wir» fort. Nach der Aufarbeitung der Vergangenheit geht es in die Zukunft: Mit der Co-Autorin Jutta Doberstein arbeitet Andres Veiel an dem Theaterstück «Welche Zukunft?», das am 28. September 2018 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wird. Zum Entstehungsprozess gehören Workshops und ein Symposium mit Experten und Laien, bei dem verschiedene Szenarien für das Jahr 2028 diskutiert wurden.

Doris Kleinau-Metzler | Was uns die Zukunft bringt, würde man gern wissen, Herr Veiel. Welche Antworten geben Sie uns in Ihrer neuen Arbeit am Theater?
Andres Veiel | Wie bei meinen anderen Arbeiten geht es mir darum, in tieferen Zusammenhängen als üblich zu denken – sowohl historisch als auch gesellschaftlich. Daraus ergab sich, dass wir zunächst mit Experten aus den Bereichen Finanzen, Ökonomie, Klima und Arbeit gemeinsam mit interessierten Laien Szenarien erarbeitet haben, wie sich unsere Welt in den nächsten zehn Jahren verändern wird. Welche Krisen werden sich zuspitzen? Welche Chancen werden daraus entstehen? Unser Anspruch war nicht, vorauszusagen, wie es dann sein wird – aber aus den potenziellen Möglich­keiten ein «Es-könnte-so-Kommen» zu konstruieren. Denn die Zukunft für 2028 wird jetzt gestaltet, nicht erst 2027. Dieser Prozess einer gemeinsamen Arbeit wurde auch filmisch dokumentiert und kann im Internet nachverfolgt werden. Das Theaterstück selbst, das am 28. September im Deutschen Theater Berlin Premiere hat, ist der nächste Schritt. Wir machen darin deutlich, dass Zukunft uns nicht nur einfach passiert. Im Stück werden zwei, drei Krisenszenarien außer Kontrolle geraten. Wir setzen dabei durchaus auch auf provokative Momente, was nichts anderes heißt als: etwas im Zuschauer in Bewegung zu bringen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | Gibt es einen persönlichen Anlass, warum Sie gerade jetzt das Thema Zukunft ausgesucht haben?
AV | Es gibt für alle meine Projekte immer einen Auslöser, einen Punkt, an dem ich weiß: Jetzt muss ich diesen Film, das Theaterstück machen! Plötzlich bringe ich zwei, drei Dinge zusammen, mit denen ich mich vielleicht schon jahrelang beschäftigt habe, und es ist wie eine innere Stimme, die sagt: «Es ist wichtig! Mach das»! Ich kann es nicht beeinflussen, aber wenn es diesen Moment nicht gibt, verliere ich das Interesse an der weiteren Arbeit dazu, es versickert. Diesen Moment des «Mach das» mache ich mir sehr bewusst. Nur dann kann er auch eine Inspiration und Kraftquelle sein, um beispielsweise trotz all der Widerstände, die es bei jedem Projekt gibt, meinen Weg weiterzugehen. Dazu gehört auch meine Entscheidung, immer finanziell unabhängig zu bleiben. So kann ich meine Arbeit in dem Tempo machen, das mir sinnvoll erscheint. Ich brauche viel Zeit, bis eine Idee sich herauskristallisiert.

DKM | War Filme- oder Theaterstückemachen Ihr Berufswunsch?
AV | Ich hatte nie vor, Regisseur zu werden. Ich bin in den Siebzigerjahren in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen, habe mich als Schüler intensiv damit beschäftigt, wie Kunst in die Gesellschaft hineinwirken kann. Als Fünfzehnjähriger fuhr ich für unsere Schülerzeitung zum Prozess gegen die RAF-Mit­glieder Andreas Bader und Ulrike Meinhof nach Stuttgart-Stammheim und hatte immer mehr die Frage: Was treibt einen Menschen an? Warum verhält er sich so, wie er sich verhält? Daraus ergab sich, dass ich Psychologie studiert habe. Früh wurde mir aber klar, dass die Wissenschaft allein unbefriedigend ist – ohne die Kraft der Poesie, der Kunst. Die Wissenschaft erstellt Modelle, um Aussagen über die Welt treffen zu können; sie argumentiert mit Modellen und muss deshalb bestimmte Aspekte herausziehen, andere werden nicht berücksichtigt.

DKM | Ja, wir meinen heute oft, was wissenschaftlich ist, stimmt und ist objektiv.
AV | Aber die Welt ist komplex, und jeder einzelne Mensch ist noch mal komplexer. Um Aussagen machen zu können, muss man extrem reduzieren, viele Faktoren ausklammern. Meine Zweifel, was die Wissenschaftlichkeit angeht, wuchsen – und verschärfen sich, wenn die Psychologie mit institutioneller Macht einhergeht. Ich hatte damals ange­fangen, in der Gefängnispsychiatrie in Berlin-Tegel zu arbeiten, und erlebte das Prinzip: Du gibst mir Einblick in deine Seele, und wenn ich damit etwas anfangen kann, dein Verhalten mir berechenbar erscheint, wirst du vielleicht bei zwei Drittel der Strafzeit entlassen. Das Innere als Ware. Aber aus einer Gruppe mit 20 Gefangenen, mit denen ich zunächst einfach in einem leeren Raum mit Fingerfarben Spuren hinterlassen wollte, ergab sich dann über verschiedene Etappen mein erstes, nicht geplantes Theaterstück. Da wusste ich: Das ist es! Die Psychologie setzt in der Regel an Defiziten an ? ich setze da an, wo die Menschen Fähigkeiten haben. Wissenschaft braucht Berechenbarkeit. Kunst ist das Gegenstück, das Unberechenbare. Ich konnte den Menschen einen Raum, eine Form für das geben, was sie umtreibt. Dadurch können sie ? und die Zuschauer ? eine Erfahrung machen. Krzysztov Kieslowski, ein polnischer Regisseur (u.a. Dekalog, Die drei Farben: Blau, Weiß, Rot) wurde eine Art Ziehvater oder Inspirator für mich. Über vier Jahre war es eine intensive Auseinandersetzung und Ausbildung, im Sinne von Meister ? Schüler. Dann musste ich mich entziehen, um meine eigenen Filme zu machen. Es gab einen Bruch. Ich habe ihm nichts mehr von meinen Arbeiten gezeigt, weil ich merkte, dass ich sonst nicht selbst der Ausführende bin, nicht wirklich frei.

DKM | In dem Buch Dokumentarfilm: Werkstattberichte schildern Sie u.a. Ihre Begleitung der Projekte von Filmstudenten und schreiben dabei von «Erwachsenwerden».
AV | Ja, ein Werden im Sinne des Eigenen, des Eigen-Sinns, ist nicht mit einem bestimmten Alter abgeschlossen. Ein interessanter Vorwurf von Kieslowski mir gegenüber war, dass wir bei uns nicht lernen würden, Verantwortung zu übernehmen. In Polen, im Sozialismus musste man damals, um eine eigene Wohnung zu bekommen, verheiratet sein und möglichst mit 21 schon Kinder haben – also Verantwortung übernehmen. Ich hatte eher das Bild eines in den Tag hineinlebenden Künstlers, dem schon etwas einfallen würde. Er sagte: «Nicht einfach mal gucken und die Entscheidung, was im Film erscheint, dann in den Schneideraum verlagern – sondern sich klar werden: Was willst du erzählen? Das heißt die Verantwortung für einen künstlerischen Prozess von Anfang an übernehmen.» Wichtig war ihm auch die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz, das heißt nicht in Stereotypen zu erzählen, sondern eine Geschichte, ein Thema um- und einzukreisen. Denn wo Schwarz ist, da sind auch Grau und Weiß.

DKM | Bei Ihrem Film Black-Box BRD hatte ich nicht den Eindruck, für eine bestimmte Sicht vereinnahmt zu werden. Trotzdem gibt es heute vieles, was einen aufregt …
AV | Für mich ist wichtig, dass ich nichts einfach überstülpe. Wir vergessen manchmal, dass das Rationale nur einen kleinen Teil unseres Lebens ausmacht. Entscheidender ist oft das Nicht-Gesagte, die Leerstelle, das Geheimnis, das sich Erwartungen und Definitionen entzieht. Offenheit und Neugierde ist ein Lebenselixier für mich. Es geht für mich darum, Menschen in meiner Arbeit in ihren tieferen Beweggründen lebendig werden zu lassen. Ohne sie dabei auf Ursache-Wirkungs-Mechanismen zu reduzieren. Wir werden heute von Informationen auf allen Ebenen überschwemmt und meinen, gut informiert zu sein. Das Vorgehen, Dinge aus dem Zusammenhang zu reißen ? eine Schlagzeile wird durch drei neue weggedrückt, die in dem Moment alle ihren Reiz haben ? entpuppt sich aber oft als Nebensächlichkeit, als kurzzeitiger Aufreger, wozu jeder meint, sich äußern zu können. Doch in welchen Zusammenhängen steht ein Ereignis, was sind die ökonomischen Be­dingungen und Strukturen, was die persönlichen Antriebe der Akteure? Als ich vor sechs Jahren begann, für Welche Zukunft? zur Finanzkrise zu recherchieren, merkte ich, dass viele Menschen aufgegeben haben, Wirtschaft zu verstehen, auch aufgrund eines unzugänglichen Fachvokabulars. Selbst Politiker verstehen es oft nicht, und so arbeiten Lobbyisten, Technokraten, Kanzleien, die für große Banken arbeiten, Gesetzentwürfe aus. Aber damit geben wir Teilhabe am politischen Prozess auf! Entsprechend nimmt die Neigung zu, nur noch reflexhaft zu reagieren. Die einzige Chance, da herauszukommen, ist, dass wir uns damit beschäftigen, dass das Wissen der Experten im wahrsten Sinne des Wortes in der Mitte liegt und damit ein offener Prozess für unsere Zukunft möglich werden kann.