Christa Ludwig

Das Flüstern und der Glücksmotor

Nr 225 | September 2018

Laute sind laut – Worte sind leise – und was den Menschen zum Menschen macht, ist nicht die Sprache, es ist das Flüstern.
Das ist ein verwegener Gedankengang, ich weiß, aber ist es nicht so? Laut ist das Krähen, das Bellen, das Wiehern, laut sind die Schreie der Eulen in der Nacht. Tiere können sich mit Lauten durchaus verständigen, Delfine und Wale tauschen über Kilometer Informationen aus, und sie können sich auch Nachrichten über Dritte mitteilen. Das ist Sprechen. Aber nicht Flüstern.
Auch Menschen schreien, leider – alte Erkenntnis: Wer schreit, hat unrecht. Mit wortlosen Lauten schreien Menschen aber auch ihre Freude heraus, ihre Angst, ihren Schmerz, jaulend wie Hunde (niemals wie Pferde, die haben keine Schmerzlaute, sie leiden stumm).
Vor der Sprache waren die Laute, über der Sprache steht das Leise, das Flüstern. Und das können Tiere nicht? Doch! Tiere können flüstern, so leise reden die Hunde mit Fiepen, die Vögel mit Piepsen, die Pferde mit einem kollernden Blubbern tief aus dem Bauch. Und die Katzen schnurren! Kaum ein Geräusch hat so eine phänomenale Karriere gemacht wie das Schnurren der Katzen. Nicht nur die zahllosen Bewunderer der Samtpfoten schmelzen dahin wie beim Pianissimo eines Belcanto Tenors. Auch nüchterne Naturwissenschaftler können sich diesem Klangphänomen nicht entziehen, und sie haben dem leisen Vibrato eine grandiose Ehre erwiesen – sie haben es zum Unterscheidungskriterium erhoben. Mit höherem Maß kann ein Wissenschaftler kaum messen: Katzen, die schnurren können, sind Hauskatzen! Löwen können nämlich nicht schnurren. Tiger und Leoparden auch nicht. Aber Pumas! Also ist der Puma eine Hauskatze!?
Und die Wissenschaftler haben noch etwas anderes festgestellt: Schnurren ist mehr als ein Geräusch, es ist Ausdruck einer Befindlichkeit, es ist ein Wohlbehagenslaut, und zwar ein rückläufiger: Wohlbehagen löst Schnurren aus und Schnurren stößt Glückshormone aus. Es ist also quasi das Laufgeräusch eines Glücksmotors. Aber auch kranke Katzen schnurren. Sie können sich damit beruhigen und die Vibrationen fördern die Heilung. Oder aber die Katze streicht schnurrend um die Beine ihres Menschen und fordert ihre Mahlzeit ein. Kein Zweifel, auch dies gelingt!
Schnurren ist offenbar wirkungsvoller als Flüstern. Und da stehen wir nun, wir Menschen, und sehen unsere Erhöhung des Sprechens übertroffen von einem Geräusch! Es tut uns nicht weh, denn sie lassen uns ja teilhaben an ihrem Wohlbehagen, auch im Menschen setzt das Schnurren Glücks­hormone frei. Was anders kann man empfinden mit einer schnurrenden Katze auf dem Schoß? Was anders kann man tun als sie streicheln und lächeln, leiser als leise, still.
Hoppla – es geht noch leiser als leise? Ohne Verlust der Tiefe des Ausdrucks ist die Sprache zu überbieten durch ein Flüstern – und das Flüstern durch ein lautloses Lächeln? Durchaus – das ist unsere Steigerung des Flüsterns. Das ist unser menscheigener Glücksmotor. Auch nicht schlecht. Schade nur, dass er kein Laufgeräusch hat. Dass man, in der übervollen U-Bahn zwischen fremden Rücken stehend, ein Lächeln auf der anderen Seite der Unbekannten nicht mal erahnen kann.
Ach, wenn wir doch schnurren könnten, leise, vibrierend, eine ganze U-Bahn voll! Darum gilt: Immer, wenn ein Kratzen mein Ohr zum Lauschen an der Tür lockt und ich dahinter ein Schnurren vernehme, so rufe ich keineswegs leise, sondern laut und be­geistert: Herein! Wenn’s kein Puma ist.