Titelbild Hochformat

Evelies Schmidt

Ein Traum von immerwährenden Göttertagen

Nr 225 | September 2018

Nek Chand und sein Rock Garden

Wahrscheinlich wäre Nek Chand Saini damals im ländlichen Punjab, am Fuße des Himalaya, wie alle in seiner Familie, Bauer geworden. Schon als kleiner Junge gestaltete er manchmal mit Steinen und Stöckchen und aus Lehm geformten Figuren seine Fantasie­reiche. Aber zum Künstler berufen zu sein gehörte nicht zu den Vorstellungen des stillen, bescheidenen Nek Chand – auch später nicht, als er längst durch den von ihm geschaffenen Rock Garden (Felsengarten) weit über die Grenzen Indiens hinaus bekannt geworden war. «Wenn ich arbeite – das ist auch Gottesdienst», sagte er in einem Gespräch.
Politische Veränderungen waren es, die dem harmonischen, ganz an der Natur und den Jahreszeiten orientierten Leben seiner Kindheits- und Jugendjahre ein jähes Ende setzten. Das Dorf Berian Kalan (40 Kilo­meter nördlich von Lahore), wo Nek am 15. Dezember 1924 geboren war, kam zu Pakistan, als der indische Subkontinent nach dem Ende des britischen Kolonialreiches 1947 geteilt wurde. Nek Chands hindu­is­tische Familie konnte kaum damit rechnen, im überwiegend muslimischen Pakistan willkommen zu sein. Sie flohen in den indischen Teil des Punjab.
1951 ließ sich Nek in Chandigarh nieder, der neuen Hauptstadt des Punjab und der modernsten Stadt in ganz Indien. Der berühmte Architekt Le Corbusier hatte sie im Auftrag des Ministerpräsidenten Jaharwahal Nehru entworfen. 1957 fand Nek Chand, der inzwischen verheiratet war und zwei Kinder hatte, eine Stelle als Straßeninspektor. Nichts hätte ihm fremder sein können als die geometrische Gleichförmigkeit der in Beton gegossenen Bauten europäischen Stils. Hier fühlte er sich als Heimatloser im Exil. Doch innerlich war er noch immer heimisch im Lauf der Jahreszeiten und erfüllt von den Geschichten über Göttinnen und Götter und magische Tiere, die er als Kind gehört hatte. Ein Jahr später, als er 33 Jahre alt war, begann er damit, jeden Tag nach der Arbeit ein verborgenes Dschungelgelände zu roden.
War es die Entdeckung dieses Ortes oder der Fund eines Steins, dessen Form ihn an eine Göttin erinnerte, was den Anstoß gab? Jedenfalls muss der schöpferische Impuls sehr stark gewesen sein. Mit dem Rad schaffte er
vom Flussbett Steine heran. Er gestaltete das Terrain, grenzte es mit Fässern ab, baute eine Hütte. Nur seine Frau wusste davon. Jahrelang sammelte er am Straßenrand und von den städtischen Müllhalden alte Fahrradgestelle, Waschbecken und Tonscherben, um aus ihnen seine mythischen Pferde, Gänse und Göttinnen zu bauen, die er in großen Scharen anordnete. Was wir als Recycling bestaunen, war für Nek Chand eine früh geübte Praxis aus Kindertagen.
Es ist ein Wunder, dass sein geheimes Paradies erst 1973 entdeckt wurde. Bei vielen Menschen flammte spontane Begeisterung auf. Von Regierungsseite überwog zunächst die Empörung über das illegal Geschaffene. Man drohte, sein Werk zu zerstören. Nicht zuletzt dank einiger engagierter Förderer und Unterstützer wurde Rock Garden 1976 als städtischer Garten der Öffentlichkeit übergeben und Nek Chand zu seinem Direktor ernannt. Er legte eine Fortführung seines Königreichs mit Wasserfällen, Brücken und Bächen an. Längst hatte man ihn im Ausland als Art Brut-Künstler entdeckt, und in Indien wurde er mit einem hohen Preis geehrt. Doch der schöpferische «Wildwuchs» von Rock Garden sorgte in Abständen immer wieder für Konflikte mit der am rational Planbaren orientierten Regierungsver­waltung.
Ganz allein hat Nek Chand sein großes Werk angefangen. Zum Schluss war es durch die große Zahl beteiligter Arbeiter ein Gemeinschaftswerk geworden. «Der Tag wird nie kommen, an dem dieses Königreich fertig ist», sagte Nek Chand, der noch im Alter genau wie seine Mithelfer in einer Hütte auf dem Gelände gelebt hat. Gestorben ist er in seinem 90. Lebensjahr am 12. Juni 2015. Rock Garden nimmt heute eine Fläche von mehr als 6 Hektar in einem insgesamt 10 Hektar großen Gelände ein und wird täglich von rund 4.000 Menschen besucht.