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Julian Sleigh

Offenheit für mich und mein Gegenüber

Nr 226 | Oktober 2018

Jeder Mensch ist seelisch berührbar. Das Gefühl, das wir für andere Menschen empfinden, kann uns erfüllen, und die anderen spüren das.
Wie können wir einen Weg finden, gut miteinander auszukommen? Was können wir tun, um die Fähigkeiten und Haltungen zu entwickeln, die für Harmonie und Freundschaft förderlich sind? Wir halten nicht oft inne, um darüber nachzudenken, wie wir uns in Beziehungen verhalten. Die Wirkungen treten in unser Bewusstsein, und dann fragen wir uns vielleicht, warum eine Begegnung angenehm oder weniger angenehm war. Wenn wir uns über jeden Schritt und die Reaktion darauf bewusst sein könnten, würde uns dies wahrscheinlich von der eigentlichen Realität der Begegnung mit einem anderen Menschen ablenken. Aber wir haben die Möglichkeit, im Nachhinein eine Begegnung näher anzusehen, wenn die Erinnerung daran noch frisch ist.
Miteinander in Beziehung zu treten, ist nicht nur ein künstlerischer Akt, es ist eine Disziplin. Es bedarf der Schaffung eines angemessenen Raumes zwischen mir und dem anderen – eines Raumes, den beide aus freien Stücken betreten, gern aufsuchen und teilen können. Aber es verlangt auch danach, sich so zu verhalten, dass man dem anderen seine Freiheit gewährt, oder besser noch: sein Gefühl der Freiheit verstärkt. Ich kann andere nicht dazu zwingen, mit mir in Beziehung zu treten. Ich kann ihnen nur den Raum anbieten, ihnen das Angebot machen, diesen zu nutzen – und darauf hoffen, dass sich Wärme und ein Verständnis füreinander entwickeln werden.
Nur ein Eremit kann in Abgeschlossenheit leben, und doch braucht jeder Mensch seinen eigenen Raum: eine sichere Basis, wo ich gewissermaßen Herr des Hauses bin. Dieser Raum kann klein sein, mit kaum erkennbaren Begrenzungen, aber ich muss deutlich spüren, dass dieser Raum allein mir gehört.
Wie oft dringen wir in den Raum eines anderen ein! Wir meinen es gut, wir suchen Kontakt, wir wollen helfen. Und doch sind wir Eindringlinge. Wir vergessen anzuklopfen und abzuwarten, bis «Herein!» gerufen wird. Wir ignorieren die Tatsache, dass der Raum nicht uns oder der Welt gehört, sondern allein dieser betreffenden Person. Wenn wir diesen so behandeln, als wäre er Allgemeingut oder sogar Teil unseres Raumes, dann laufen wir Gefahr, uns selbst das Privileg einzuräumen, jederzeit eintreten zu dürfen.
Der Raum unserer persönlichen Gedanken kann wie ein Labor sein, wie eine Bücherei oder ein friedlicher Garten. Oder wie all das zusammen. Dies bedeutet, dass immer, wenn wir von einer Person möchten, dass sie etwas tut, wir sie ansprechen und die Anfrage oder Forderung so präsentieren sollten, dass sie diese empfangen, verstehen und uns ihre Antwort darauf mitteilen kann. Das endgültige Ergebnis wäre dann eine gemeinsame Entscheidung. Anstatt sich mit unserer Anordnung einverstanden zu erklären, handelt mein Gegenüber dann in Freiheit und kann aus seinem oder ihrem reichen Schatz an Energie und Hilfsbereitschaft schöpfen, den er oder sie in der Seele trägt.
Was uns zum Menschen macht, ist unsere Fähigkeit des Fühlens. Mein eigener Innenraum ist der Ort, an dem ich mein Selbst finde. Ein Ort, an dem ich eine Erfahrung von meinen Selbstwert und meiner Rolle im Leben haben kann. Ein Ort, der die «Werkstatt meiner Seele» enthält: mit meiner unfertigen Arbeit, meinen persönlichen Idealen – aber auch mit meinem Fühlen als solchem.