Das Gesicht des Menschen

Nr 227 | November 2018

Liebe Leserin, lieber Leser

«Jetzt. Jetzt. Endlich. Jetzt! Die neue Welt hat begonnen.», schreibt René Schickele in seinem Buch Der 9. November aus dem Jahr 1919, wie Andre Bartoniczek für uns zitiert in seinem Essay zu diesem so schicksalsträchtigen Datum deutscher Geschichte. Und er fährt fort: «Da ist sie, die befreite Menschheit! Das Bild von Sais hat sich enthüllt. Ein Gesicht erscheint im Atmosphärenwust der Angst und Lüge: das Gesicht des Menschen.» Über Sais hat einmal Friedrich Schiller geschrieben: «Unter einer alten Bildsäule der Isis las man die Worte: ‹Ich bin, was da ist›, und auf einer Pyramide zu Sais stand die uralte merkwürdige Inschrift: ‹Ich bin alles, was ist, was war und was sein wird; kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.›» Dem jüngeren Zeitgenossen Schillers Friedrich von Hardenberg, der als Dichter Novalis ein Romanfragment mit dem Titel Die Lehrlinge zu Sais hinterließ, verschmolz mit dem Götterbild zu Sais die Erinnerung an seine verstorbene Braut Sophie. «Der Glaube an die unsichtbare Gegenwart der verstorbenen Braut», schreiben die Herausgeber der Schriften von Novalis, Paul Kluckhohn und Richard Samuel, «erfüllt den Dichter wie den stillen, in sich gekehrten Lehrling und lässt alles Fremde ihm vertraut und beziehungsreich werden.»
Wir glauben es zu kennen, das Gesicht des Menschen; sicher hat man dies auch vor dem 9. November 1918, jenem epochemachenden Datum, über das René Schickele schrieb, bereits geglaubt. Doch für René Schickele sollten erst die revolutionären Ereignisse vom 9. November 1918 das Gesicht des Menschen vollends offenbaren. Wie viel Verborgenes verbirgt sich noch im Gesicht eines Menschen? Wie lange dauerte es, bis ein erkennbar individuelles, von Persönlichkeit erfülltes Gesicht in der Menschheitsgeschichte überhaupt gestaltet wurde? Und wie ist es mit dem Gesicht eines Verstorbenen? Haben die Verstorbenen überhaupt ein Gesicht?
Zumindest eine Stimme kann Iris Paxino einigen Verstorbenen geben, wie in ihrem bewegenden Buch Brücken zwischen Leben und Tod zu erfahren ist. Wir haben noch so viel zu lernen, um das Gesicht des Menschen zu sehen, zu schätzen, zu lieben – unsterblich sollte ein Mensch gar werden, um den Schleier der Göttin zu Sais lüften zu können, um dann «Wunder des Wunders» sich selbst zu gewahren, wie Novalis dichtete. Lernen wir also erst die Stimmen der Verstorbenen zu hören auf unserem Weg, das Gesicht des Menschen lebendig erscheinen zu lassen!

Von Herzen grüßt Sie in diesem Monat November,
Ihr
Jean-Claude Lin