Titelbild Hochformat

David Klass

Siegen kann tödlich sein

Nr 227 | November 2018

gelesen von Simone Lambert

Daniel Pratzer ist neu an der angesehenen Privatschule und er sucht dort seinen Platz zwischen Leistungsdruck, Statusbezeugungen und persönlichen Neigungen. Er wird Mitglied im Schachklub und hat als leidlicher Spieler dort stets die Stars der Schule vor Augen: Eric Chisholm und Brad Kinney stammen, anders als Daniel, aus gut situierten Familien.
Dementsprechend überrascht ist Daniel, als er, zusammen mit seinem Vater Morris, eingeladen wird, mit den Chisholms und Kinneys an einem Vater-Sohn-Schachturnier in New York teilzunehmen: Brad und Eric haben herausgefunden, dass Morris Pratzer – ein ruhiger, zur Fülle neigender Steuerberater mit fortgeschrittenem Haarausfall – ein Großmeister ist. Dass der eigene Vater eine unbekannte Vergangenheit hat, ist schon ein starkes Stück, aber dass diese Vergangen­heit auch noch mit einem weltweitem Renommee verbunden ist, kann Daniel kaum glauben. Nach anfänglichem Widerstand lässt sich der Vater auf das Schachturnier ein.
An den folgenden Tagen im New Yorker Palace Royale Hotel erlebt Morris Pratzer den Krieg des Schachspiels noch einmal. David sieht, wie das ruhige Wesen seines Vaters sich in das eines zu allem bereiten Kriegers verwandelt. Er übergibt sich, isst nichts, schläft nicht, bekommt Herzattacken, aber er kämpft um den Sieg wie um sein Leben. Daniel lernt Morris als einen sensiblen, klugen, begabten, starken und leidenschaftlichen Menschen und Vater kennen. Der ermutigt seinen Sohn und bringt ihm bei, Partien zu lesen und Strategien zu entwickeln. Und er weiß in David ein Empfinden für die Größe des Spiels zu wecken.
Gegenüber den arroganten Erfolgs­vätern tritt Morris selbstbewusst auf, schützt seinen Sohn und weiß die Schachtruppe überlegt und demütig zugleich durch das Turnier zu führen. Morris lenkt den Blick auf die Werte, die wirklich zählen: Das Wichtigste ist die Liebe des Vaters zum Sohn.
In der Nacht vor der Entscheidung spielen Vater und Sohn eine berühmte Partie nach, A night at the Opera, die Paul Morphy, amerikanisches Schachgenie des 19. Jahrhunderts, als Logengast in siebzehn Zügen gewann, bevor er sich Die Hochzeit des Figaro in der Pariser Oper ansah. Tatsächlich hat Schach etwas von einer Oper, von ihrem Drama, ihrem Pathos und Furor.
Daniels Vater hatte sich dreißig Jahre zuvor – mit gerade einmal sechzehn Jahren einer der jüngsten Großmeister – aus dem Schachbetrieb zurückgezogen und über diesen Teil seines Lebens fortan geschwiegen. Wie sein Sohn hatte sich auch Morris unscheinbar und uninteressant gefühlt, dies war einer seiner Gründe, mit Schach aufzuhören. Stundenlang auf sich selbst zurückgeworfen einen Wettkampf zu führen mag Eigenbrötler anziehen, die unter dem Druck des Spiels dann auch verhaltensauffällig werden. Sein Vater hat sich gegen diese Gefahr ent­schieden. Seine Schachgeschichte kommt im Lauf des dramatischen Turniers ans Licht, ohne dass sie das Rätselhafte ganz verliert.
David Klass, der schon zahlreiche Drehbücher für Hollywood schreib, ist mit Siegen kann tödlich sein ein kluger Roman über Schach, eine bewegende Vater-Sohn-Geschichte und vor allem die Erzählung eines außergewöhnlichen Schicksals gelungen.
Das Buch ist spannend auch für Leser, die mit Schach keine Erfahrungen haben. Ein Roman, der vielschichtig und unterhaltsam eine Geschichte erzählt von einem großen Spiel und darüber, wie es Menschen zu formen vermag. Un­bedingt empfohlen.


PS: Vom 9. bis 28. November 2018 spielen der Norweger Magnus Carlsen und der Amerikaner Fabiano Caruana um die Schachweltmeisterschaft in New York.