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Wer hat den Schnee gestohlen?

Nr 228 | Dezember 2018

gelesen von Simone Lambert

Weihnachten naht, und Gerda – die Älteste von drei Geschwistern – beobachtet, wie die Welt um sie herum sich vorbereitet, mit Geschenken, Gebäck und bunten Briefen. Alles wie sonst auch. Aber Gerda sorgt sich um den Schnee, der nicht fällt. Für Gerda bedeutet er eine weiße, reine Welt, den Zauber der Christnacht und Licht in einer dunklen Jahreszeit.
Mit detektivischem Eifer macht sich das Mädchen auf die Suche und fragt in der Nachbarschaft herum, wo denn der Schnee geblieben ist. Doch die Erwachsenen geben merkwürdige Antworten auf diese einfache Frage. Sie weichen aus oder beschreiben den Schnee als lästig und unangenehm: Er kann ihnen gestohlen bleiben. Mit kindlicher Einfalt nimmt Gerda diesen Satz wörtlich – ist der Schnee tatsächlich gestohlen worden?
Sie vergießt Tränen und es ist ihr Vater, der ihr den Vorschlag macht, der Tante in den Karpaten einen Brief zu schreiben. Zum einen kennt sie «den lieben Gott gut, auch die Engel», zum andern ist ihre Heimat im Winter stets tief verschneit. Gerda bittet die Tante um Beistand und Fürsprache im Himmel: «Allerliebster Gott, der Du uns das kleine Christkind jedes Jahr auf die Erde schickst, gib uns bitte den Schnee von Deinem himmlischen Haus, aus dem auch Sterne und Sonne leuchten. Alle brauchen Wunder.» Gerdas Wunsch wird erhört werden.
Auf zwölf doppelseitigen Tableaus entfaltet sich die Geschichte um Gerdas Sehnsucht nach Schnee. Blaugrau eingestrichene Papiere bilden einen flächigen Grund und vermitteln winterliche Kühle, aber auch eine träumerische Weltwahrnehmung. Die Illustrationen von Ulrike Jänichen in Rot, Blau, Pack­papierbeige, Weiß und Braun spielen mit den Dimensionen, zeigen flächige und dreidimensionale Elemente zugleich: Häuser wie Bauklötzchen, Spielzeugautos trans­portieren Geschenke und Lebkuchenherzen, Schäfchenwolken schweben am Nacht­himmel. Weiße Figuren, wie ausgestochen, umkreisen die kleine Gerda. Verschobene Perspektiven, die Raumanordnungen und «fliegenden» Menschen erinnern an den Bildaufbau bei Marc Chagall. Ein weiteres gestalterisches Element sind die Ornamente. Die Pflanzen im Blumenladen beispielsweise zeichnet Ulrike Jänichen als florale Stickmuster. Ein folkloristisches Motiv, das vertraut ist, traditionell wirkt und die gerade­zu archaische Kraft von Gerdas Wunsch spiegelt.
Die Erwachsenen sind verschlossen gegenüber dem Zauber von Schnee. Dass er ihnen gestohlen bleiben kann (weil er sie in ihrem Arbeitseifer behindert), ist eine sprachliche Wendung in der Geschichte von Yaroslawa Black, die verrät, dass ihnen auch etwas fehlt – wie es eben ist, wenn etwas entwendet wurde. Gerdas innige Sehnsucht nach der sinnlichen und spirituellen Erfahrung von Schnee und ihr grenzenloses Vertrauen in ihre Tante und deren gute Verbindung zu den himmlischen Mächten drücken sich in dem «Schneewunder» an Heiligabend aus, das auch die Großen berührt – jene, die noch an Wunder glauben. Der Schnee zwingt zum Innehalten, und die Menschen sind froh darüber.
Gerdas Geschichte ist ein Zeugnis tiefen Glaubens ebenso wie eine leise, antikapitalistische Kritik für den mitlesenden Erwachsenen. Das Bilderbuch berührt, weil es sich im Rahmen der Möglichkeiten und Überzeugungen des Kindes bewegt. Die Bilder verschaffen Ruhe und erfüllen den Betrachter mit Zauber. Eine echte Weihnachtsgeschichte.