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Michael Ladwein

Am Anfang war …

Nr 228 | Dezember 2018

… die Musik. Denn das Wort wurde gesungen. Die Weisen und Seher sagen nämlich, dass des Menschen Ursprache Gesang, Sprechgesang war. Das älteste er­haltene Musikinstrument, eine Flöte aus einem Schwanenflügelknochen aus der Vogelherdhöhle der Schwäbischen Alb, etwa vierzig­tausend Jahre alt, ist zugleich eines der frühesten Beispiele menschlicher Kultur überhaupt.
Zu Beginn der Hochkulturen, als Tempel und Palast noch eine Einheit waren, stand die Musik noch ganz im Dienst der Ver­ehrung der göttlichen Welt, deren Vertreter der Herrscher als Priesterkönig war und deren Ordnung sich in derjenigen der Menschenwelt spiegelte. Allmählich trennten sich diese Bereiche, es kam zur Ausbildung sakraler und weltlicher Musik. Sie erklang in Pauken, Schallbecken, Posaunen, Tamburinen, Flöten und Saiteninstrumenten.
Die Griechen schauten Apollo, den Gott der Schönheit und des Maßes, zugleich der Heilung, den Anführer der Musen (denen die Musik ihren Namen verdankt), mit der siebensaitigen Lyra in Händen, als Sinnbild der himmlischen und mensch­lichen Ordnung. Sein Sohn Orpheus gewann mit ebensolcher Leier und seinem Gesang Macht über die belebte und die unbelebte Welt und bezwang sogar die Mächte der Unterwelt. Dionysos Pythagoras – und ihm folgend Plato – dachten, von den gemeinsamen Zahlenverhältnissen in beiden Bereichen ausgehend, den gewaltigen Gedanken vom Sternenkosmos als einer großen Musik, als tönende Sphärenharmonie. Sogar die Tempel bauten die Griechen nach diesen gleichen kosmisch-musikalischen Gesetzen, wie es dann im Mittelalter (als die Musik als eine der 7 Freien Künste eine bedeutende Rolle im höheren Bildungsgang spielte) auch mit den Kathedralen geschah. Im Kreise der deutschen Romantiker sprach man später daher von der Architektur als einer erstarrten oder gefrorenen Musik. Goethe brachte die gleiche Anschauung in die folgenden Worte: «Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt, / Ich glaube gar, der ganze Tempel singt.» (Faust II)
Aber da hatte die Musik längst schon eine gewaltige Entwicklung erfahren. Zwischen Mönchsgesang und Tanzboden waren neue Formen sakraler wie profaner Musik aufgeblüht: Mehrstimmigkeit, neue Ton­arten, das Aufkommen neuer Instrumente, die Entstehung der Oper, der Sinfonien usw., im kirchlichen Bereich vertonte Messen oder Kantaten. Die ganz Großen be­traten die Bühne: Bach, Händel, Vivaldi, die Wiener Klassiker, deren Namen nicht genannt werden müssen. Auch nicht die ihrer Nachfolger, der Romantiker und der «Neuerer», auch zum Beispiel der Tanz­musik Wiener Prägung (der an jedem Neujahrstag eine Milliarde Menschen weltweit lauschen). Dann kamen schließlich auch die neuen Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts, ob Jazz, Filmmusik, Operette, Musical, ob elektronisch, seriell, minimal, synthetisch, und die ganze Uferlosigkeit der Unterhaltungsmusikindustrie.
Wahrlich, die Musik ist eine «Weltmacht», die sich allgegenwärtig in tausend Formen zeigt. Die Dichter, Denker und die Musiker selbst haben ebenso tausendfältig die Musik wieder zur Sprache gebracht. Damit rundet sich der große Zeitenkreis.

ABENDSTÄNDCHEN

Hör, es klagt die Flöte wieder,
und die kühlen Brunnen rauschen.
Golden wehn die Töne nieder,
stille, stille, lass uns lauschen!

Holdes Bitten, mild Verlangen,
wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
blickt zu mir der Töne Licht.


Clemens Brentano