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Rainer Rappmann

Das Erscheinen einer Idee wird 100 Jahre alt

Nr 230 | Februar 2019

Musste uns erst ein 15-jähriges schwedisches Mädchen, Greta Thunberg, wieder wecken, um uns in ihrem Protest gegen die Untätigkeit der Politik in Sachen Klimawandel auf die Systemfragen aufmerksam zu machen? «Wenn es in diesem System keine Lösungen gibt, müssen wir vielleicht das System ­ändern», sagte sie überzeugt – und die Zuhörenden staunten.
Systemwandel? Hatten wir das nicht schon einmal, als sich der Kommunismus als nicht lebensfähig erwiesen hat? Das System ist die Grundlage des gesamtgesellschaftlichen Miteinanders. Heute würde man es in einem technisierten Verständnis wohl eher «Programm» nennen. Aber das menschliche Miteinander ist kein Programm, sondern kann besser als «unsichtbarer Organismus» bzw. «Soziale Plastik» verstanden werden. Hier gibt es gewisse Ordnungen und es zeigen sich gewisse Grundkräfte.
Doch welche Kräfte wirken im sozialen Organismus? Am Ende des Ersten Weltkrieges war es Rudolf Steiner, der die drei Eckpfeiler der französischen Aufklärung und Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – direkt in Beziehung zu drei wesentlichen Lebensbereichen setzte: die Freiheit zur Kultur, zum Geistesleben, die Gleichheit zur Rechtsebene und zum Staatsleben und die Brüderlich-, die Geschwisterlichkeit zur eigentlich wirtschaftlichen Tätigkeit des Menschen.
Die Idee der sozialen Dreigliederung wurde also vor 100 Jahren ins Spiel gebracht und im Lauf der Jahre von einer ganzen Reihe von Menschen weitergepflegt und -ent­wickelt.* Die Linien dieses Urbildes von Rudolf Steiner zeigen nach vorne. Und so setzen wir es genau jetzt – im Jubiläumsjahr – ins Zentrum der Aufmerksamkeit, da es völlig entgegengesetzt steht zu heutigen, tatsächlich rückwärtsgewandten Tendenzen, die unser freiheitlich-emanzipatorisches Gedankengut bröckeln lassen, es gar in nationalis­tischen Bestrebungen aufs Spiel setzen.
Nach 100 Jahren bewegt uns, ebenso wie viele andere Feiernde u.a. in Stuttgart, Berlin und Dornach, die Frage nach der Wertigkeit dieser Idee: Was – wenn ja – hat sie uns heute zu sagen? Welche Bedeutung hat sie im rasanten Wandel der Zeit? Wo finden sich Paradebeispiele der Umsetzung von Dreigliederung?
Was wäre die Alternative zu einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr den Markt- und Geldgesetzen unterwirft und dabei Mensch und Natur ausbeutet, unterjocht – ja, zerstört? Bietet die Idee heute Lösungsansätze für unsere drängenden Aufgaben der Gegenwart und Zukunft: Umwelt- und Innenwelt­zerstörung, Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung, unkontrollierte Dynamik der Digitalisierung?
Eine Systemänderung kann nur evolutionär erfolgen, indem sich immer mehr Menschen in eine solche Idee einleben und sie dann peu à peu mit anderen gemeinsam verwirklichen, wachsen und gedeihen lassen.
Der 100. Geburtstag des Erscheinens dieser Idee hat uns daher veranlasst, sie zuerst einmal mit allen Sinnen zu feiern. Wir tun dies vom 26. – 28. April 2019 in Achberg bei Lindau am Bodensee mit vielen Menschen gemeinsam, die ihre Kunstfähigkeiten mit einbringen: mit Lichter-Feuerwerk, Musik der Stangenbohnenpartei, Tanz, Wort-Klang-Stille sowie mit alten und jungen und auch neuen Weggefährten, u.a. Christian Felber, Hildegard Kurt, Albert Schmelzer, Gerald Häfner. Und wir tun dies in der so wunderschön aufblühenden Natur des Bodensee-Allgäu-Gebietes. Möge auch dadurch der Impuls der Dreigliederung weiterwachsen und sich entfalten.