Ralf Lilienthal

Ziemlich beste Fremde

Nr 230 | Februar 2019

Jiddisch für Anfänger, instrumentale Klezmer-Musik oder eine Gesprächsrunde über interkulturelle Konfliktlösung am Beispiel des israelisch-palästinensischen Projekts «Roots» – ganz gleich, in welchen Workshop ein interessierter Besucher hineinhorcht, er möchte da bleiben und genauso ernsthaft und freudig musizieren, tanzen oder diskutieren, wie das in diesen Kursen durchweg geschieht.
Es ist August 2018 – und wir haben uns unter die Teilnehmer des Yiddish Summer Weimar gemischt, einem jährlichen Veran­staltungsmarathon, der zugleich Festival und Summerschool ist. Und eine international bedeutende Kulturinstitution, die ins zwanzigste Jahr ihres Bestehens geht und einen Monat lang ihr unerschöpfliches Füllhorn über die Goethestadt an der Ilm ausschüttet.

Obwohl insbesondere das Konzertprogramm der eigentlichen Festivalwoche mit internationalen Stars der Szene aufwartet und dabei rauschende musikalische Feste feiert, tritt Yiddish Summer Weimar (abgekürzt YSW) insgesamt in einem eher bescheidenen Gewand auf. Das rustikale Festivalbüro in der Johann Nepomuk Hummel-Musikschule, die Konzertbühne im Jugend- und Kulturzentrum mon ami oder die OMA, die Other Music Academy – sie alle strahlen nicht Showbiz- und Glamour-Atmosphäre aus, stattdessen glänzen hier die abgetretenen Tanzböden, die vom Fiddeln und Trommeln erhitzten Gesichter – überstrahlt von der Freude am gemeinsamen Musizieren, über errungene Einsichten und neue Freundschaften.
Wer das Konzentrat dieser lebendigen Vielfalt sucht, findet es im OMA-Gebäude. Ein altes, etwas heruntergekommenes Schulhaus, von der Stadt zur freien Verwendung (und zur Renovierung) überlassen, bislang ohne funktionierende Heizung, mit ab­blätterndem Putz, verblichenen Farben und architektonischen Improvisationen, wohin das Auge schaut. Ein charmantes Provisorium, das aber dennoch Methode hat: «An der OMA kann man ablesen, wie wir mit Tradition und Geschichte umgehen. Denn das Vergangene bleibt substanziell sichtbar und anregend, und die Veränderung geschieht organisch aus dem sozialen Prozess. Das Gebäude ist unvoll­kommen? Umso eher werden aus Besuchern Mitmacher und Verwandler.»
Während der Yiddish Summer-Wochen wird die OMA zum Magnetpol aller Aktivitäten und zum Räuberlager der Volunteers, die – gegen Kost, Logis und freien Eintritt – mithelfen und aus Weimar und Umgebung kommen, aber auch aus Halle, Frankfurt und Heidelberg, aus London, Warschau oder Tel Aviv. Denn die Anziehungskraft des YSW ist groß: «Andere machen Work and Travel in Neuseeland, um sich zu finden. Dabei reicht es, mit dem Zug nach Weimar zu fahren. Ich glaube ich würde woanders nicht so viel erleben.» Wer hier als Küchen- und Café-Helfer, Beleuchtungs- oder Sound-Assistent, im Shuttleservice, am Infopoint oder im Festivalbüro arbeitet, wird ganz von allein in den bunten Reigen der Ethnien und Religionen, der Positionen und Persönlichkeiten hineingezogen. «Das Festival ist total inte­grativ. Egal wie dröge du vielleicht sonst bist – es macht ‹schnipp› und du bist drin; du diskutierst und singst und tanzt und feierst mit. Du kommst als Fremder und du gehst als Freund.»

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Nicht das kleinste Glück der Volunteers ist die Begegnung mit den Künstlern und Workshopleitern, die oftmals zu den inter­national Größten ihrer jeweiligen Szene zählen und doch, während der Pausen und Mahlzeiten, im Shuttleauto oder bei einer gemeinsamen Zugfahrt, so nahbar und zugänglich sind wie sonst nur der nette Nachbar aus dem dritten Stock. Und weil auch viele der Workshopteilnehmer selbst vom jeweiligen Fach und oft genug sogar Profis sind, ist die Durchmischung und wechsel­seitige Inspiration perfekt.
Das alles ist kein Zufall, was man an so typischen YSW-Formaten ablesen kann wie den Dozierendenkonzerten, den sich als muntere Straßenevents über Weimar er­gießenden Jam Sessions, dem Open Stage Format des Late Night Cabarett. Oder an Meet The Artist, ein Vorab-Event, bei dem der abendliche Konzertbesucher schon am Mittag hautnah etwa das nuancenreiche Mienenspiel eines Yair Dalal oder die überbordende Vitalität der Alaev Familiy genießen kann.
Wer zwischen den Orten und Events hin und her flaniert und dabei neben dem Besonderen, Unverwechselbaren auch auf das Ähnliche und Gemeinsame fokussiert ist, bemerkt Grundtöne, die überall angeschlagen werden: Da ist die große Freude am Gespräch – ganz gleich, ob es um den Fortgeschrittenen-Workshop Jiddisch, unter Anleitung des großartigen Abraham Lichtenbaum geht, in dem jedes Wort und jedes sprachliche Bild genossen wird, um die musikalische Rede und Gegenrede in den Klezmer-Instrumentalworkshops oder um den allgegenwärtigen intellektuell-ironischen Disput. Da ist die Bedeutung der unmittelbaren Erfahrung. Durch die Kunst der Improvisation. Und durch das Spielen nach Gehör, das nicht nur von den Fortgeschrittenen und Profis erwartet wird, sondern auch von den Kindern und Anfängern. Es ist die älteste und am weitesten verbreitete Methode überhaupt, bei der, im Gegensatz zum Spielen nach Noten, der Blick «auf die musikalische Landschaft gelenkt wird und nicht auf die Landkarte!». Und schließlich geht es überall und immer um das Zusammenbringen des Fremden und Anderen, um Brücken, die, durch gemeinsames Tun, aus zwei oder mehr einander bislang Unbekannten und Unverstandenen mit einem Mal ziemlich beste Fremde machen kann.

Und das Publikum, die Teilnehmer? Natürlich treten aus den jährlich bis zu 10.000 Be­suchern der Konzerte und Veranstaltungen des YSW nur wenige aus der Anonymität heraus: wie der in Bergen-Belsen geborene argentinische Designer, der nach Deutschland kommt, um hier seine Jiddisch-Kenntnisse zu vertiefen. Oder die jungen Teilnehmer des jiddischen Kinderliederkurses, angereist aus Spanien, Italien, Russland oder Polen. Der pensionierte Banker, der fünfundsechzig Jahre lang «wissentlich niemals einem Menschen jüdischen Glaubens begegnet war» und hier seine Wissenslücken schließen will. Der Steueranwalt, Teilnehmer und Volunteer, «weil man besser in die Sachen eintaucht, statt sie von außen zu betrachten». Und immer wieder begeisterte Musiker, Judaistikstudenten oder Kultur­arbeiter aller Provenienz.
Und natürlich sind da noch die Bürger von Weimar und die Touristen, die mit dem Begriff «Yiddish» vielleicht Erwartungen verbunden hatten, die von der Gute-Laune-Klezmer-Big-Band Beigale so sicher erfüllt wie sie vom Elias Trio, der Afro-Baghdad Expression oder den Alaev’s irritiert wurden. Denn, so viel steht fest, das Festival, das in den ersten Jahren noch «Klezmer-Wochen» hieß und Teil einer sehr populären Strömung war, hat sich längst über den ersten selbst gesteckten Rahmen hinaus bewegt. Es geht heute, wie im Vereinsnamen markiert, immer um «Other Music», was auch daran zu erkennen ist, dass jeder Yiddish-Summer unter einem speziellen Jahresmotto steht – 2018 war es «The Other Israel – New Spaces». Dabei geht es, methodisch sauber ausgearbeitet und wissenschaftlich begleitet, um die Erforschung, Vermittlung, Kreation und Präsen­tation eines einzelnen Themas durch viele Protagonisten, womit spätestens jetzt klar ist, dass der YSW alles ist, nur kein Konser­vatorium vergangener Epochen.

Am Ende der viertägigen Recherche sieht sich der Festival-Beobachter einer Fülle von Impressionen gegenüber, erkennt Strukturen und Leitideen. Aber irgendetwas fehlt, auch nach den erhellenden Gesprächen mit dem Klezmer-Geiger und Festivalmanager Johannes Gräßer und Andreas Schmitges, Festival-Kurator, Gitarrist, Tanzmeister und noch vieles mehr.
Was fehlt, sitzt dann endlich freundlich und zugewandt im sonnigen Innenhof der OMA und erzählt seine Geschichte: Alan Bern, Begründer und künstlerischer Leiter der YSW – das Klavier-Wunderkind aus Bloomington, Indiana, weltreisender Akkordeonist und Pianist der Klezmer-Musik, Film- und Theaterkomponist. Aber so imposant die nur angedeutete Lebens­leistungsliste auch ist, sie verdeckt das Wesentliche dieser weit gespannten Persönlichkeit. Doch vielleicht sieht man das gerade hier, in Weimar, in dem Land, das seiner Familie unvorstellbares Leid zugefügt hat, besonders gut. Denn in der Sozialgestalt und täglichen Realität des Yiddish Summer spiegeln sich die Gipfel und Klüfte der Biographie Alan Berns. In der unbedingten Hingabe an die Musik, verbunden mit einer grundlegenden Skepsis gegen das überkommene Establishment. Im Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit und Individualität. In der Abweisung von bloßem Konsum und blinder Heldenverehrung. In den Einsichten über gelingende Pädagogik: «Wir können Menschen nicht an die Hand nehmen. Wir müssen Gelegenheiten herbeiführen, dass die Menschen es selber schaffen und irgendwann sagen: Jetzt kann ich sehen, jetzt kann ich hören. Natürlich geht es um jiddische Kultur und ihre Verflechtungen mit anderen Kulturen. Am Ende geht es aber um eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem Anderen – und mit mir selbst! Und darum, dass gutes Neues entstehen kann.»