Walther Streffer

Motorische Intelligenz und Werkzeuggebrauch

Nr 230 | Februar 2019

In der Entwicklung von den Amphibien zu den Säugetieren zeigt sich eine zunehmende Verlagerung der Gliedmaßen unter den Körper, wobei Schultergelenk und Kopf immer be­weglicher wurden. Ein sich schnell fortbe­wegendes Tier muss alle Ereignisse in einer entsprechend kurzen Zeit verarbeiten. Be­wegungstempo, Reaktionsvermögen und Gehirnleistung sind deshalb in einem sich gegenseitig bedingenden Evolutionsprozess zu sehen. Gesteigerte kognitive Fähigkeiten sind bei jenen Tiergruppen festzustellen, die ihre Vordergliedmaßen nicht nur zur Fort­bewegung benutzen, sondern sie auch viel­fältig als Greifhände einsetzen, wie es bei­spiels­weise Nagetiere, Fischotter, Waschbären und besonders Affen tun.
An die Feinmotorik der Hände scheint eine zunehmende Intelligenz gekoppelt zu sein, die heute unter dem Aspekt der motorischen Intelligenz diskutiert wird. Zwei Tiergruppen seien erwähnt, die für ihre mangelnden Greifhände einen prächtigen Ersatz entwickelt haben: Elefanten, bei denen der Rüssel als ein vielseitig verwendbares Instrument die Funktion von Arm und Hand übernommen hat, wobei die Rüsselspitze äußerst empfindsam ist, und der Krake. Seine große Lernfähigkeit scheint in engem Zusammenhang mit dem Einsatz seiner zahlreichen Fangarme zu stehen, die als Greifhände fungieren und unabhängig voneinander bewegt werden können. Der Krake öffnet nicht nur mühelos den Schraubdeckel eines Glases, sondern er lernt auch, geschickt einen verdrehten Zauberwürfel zu lösen.
Bei Säugetieren und Vögeln hat sich aufgrund der motorischen Intelligenz innerhalb mehrerer Arten ein Werkzeuggebrauch entwickelt, und bei einigen konnte sogar die Herstellung von Werkzeug beobachtet werden, was heute als technische Intelligenz bezeichnet wird: So ziehen etwa Galapagos-Spechtfinken mit Kaktusnadeln Maden aus ihren Verstecken, und Schimpansen angeln auf ähnliche Weise mit Grashalmen Termiten aus ihren Löchern. Schimpansen benutzen auch Steine, um damit hartschalige Palmfrüchte zu knacken; oder sie nehmen einen Ast und einen Stein als Amboss. Sie brechen mit kräftigen Stöcken auch Bienennester auf und benutzen dann ausgefranste Stöckchen, um damit Honig zu schlecken. Kapuzineraffen wiederum verwenden Blätter zum Wasserschöpfen. Rabenvögel und Papageien lernen, mit einem Stöckchen an Nahrung in einem vergitterten Behälter zu gelangen; sie be­nutzen aber auch Werkzeug, um an anderes, geeigneteres Werkzeug zu gelangen, mit dem sie das Futter erreichen können.
Derartige Versuche von sequenziellem Werkzeuggebrauch erfolgen in mehreren Schritten und zunehmenden Schwierigkeitsgraden. Bei einem anspruchsvolleren Experiment wurden mehrere Kakadus mit einer sogenannten «Multi-Box» konfrontiert: Ein Vogel bewältigte dabei fünf hintereinandergeschaltete Verschlussmechanismen; die anderen Tiere lernten den Öffnungsprozess unmittelbar durch Beobachtung.
Als Steigerung des Werkzeuggebrauchs darf das Herstellen bzw. Modifizieren von Werkzeugen angesehen werden. Geradschnabelkrähen aus Kaledonien etwa reißen schmale Stücke von den langen, mit Widerhaken besetzten Blättern des Schraubenbaums ab und schlitzen die Blätter derart auf, dass ein festes längliches, dreistufiges Werkzeug entsteht, mit dem sie Insekten aus ihren Löchern holen können. Eine Krähe bog in einem Versuch das Ende eines Drahts zu einem Angelhaken um. Der Werkzeuggebrauch ist also nicht nur uns Menschen überlassen.