Elisabeth Weller

Lesende sind jene, denen die Welt nicht genügt

Nr 231 | März 2019

Das Lesen vortrefflicher Literatur ist überaus beglückend, denn die Zauberkraft des literarischen Kunstwerks kappt das ans Irdische gebundene Gängelband der Alltagssprache und trägt uns in luftige Höhe. Begeben wir uns erst einmal tiefer als gewöhnlich in einen solchen Text hinein, begreifen wir, dass gerade seine Sprache ihn so kostbar macht. Dann ziehen uns seine treffenden Worte in Bann, Details leuchten auf. In einem Satz des Schweizer Wortartisten Robert Walser etwa: «Er, der Hut, sitzt auf ihm, dem Kopf.» Die Kopfbedeckung, das unbelebte Objekt unserer vertrauten Wirklichkeit, verwandelt sich hier unversehens zum lebendigen Subjekt. Die Personifizierung überhöht das Ding und degradiert den Kopf. Diese verrückte Dominanz erzeugt einen komischen Effekt. Überdies spielt sich das für gewöhnlich unscheinbare Komma durch seine Vielzahl vorwitzig in den Vordergrund. Es wirft die Worte wie Bälle in die Luft.
Solche emanzipierten Zeichen, Wörter und Sätze haben die Gesetze der Alltags­sprache hinter sich gelassen. Weder Informa­tionsgehalt noch Zerstreuung sind ihr Ziel. Sie haben einen Raum geschaffen, in dem sie sich auf sich selbst beziehen können. In der Poesie lebt die Sprache in exotischer Freiheit, unbeherrscht vom Wirklichkeitsbezug. Das Wort entledigt sich seiner Alltagspflicht, Vehikel des Ausdrucks zu sein, und erstrahlt wie bei einem Feierabend­spaziergang im eigenen Glanz seiner Wortverzauberung:

The snail gives off stillness. / The weed is blessed. / At the end of a long day / The man finds joy, the water peace.
Die Schnecke verströmt Stille. / Das Unkraut ist gesegnet. / Am Ende eines langen Tages / Findet der Mensch Freude, das Wasser Frieden.

So lautet die erste Strophe des Gedichts Evening / Abend des amerikanischen Lyrikers Charles Simic.

Freiheit verheißen literarische Texte gerade dadurch, dass sie Wirklichkeit nicht abbilden, sondern eine eigene Welt erschaffen. Jenseits von schnell konsumierbaren Eindeutigkeiten warten sie mit einer geschliffenen Komplexität auf. So ist auch Kafkas zumeist als Käfer fehlgelesenes Wesen in der Verwandlung keinesfalls als solcher identifizierbar. Aufmerksam Lesende finden in der ersten Zeile jedoch ein «ungeheures Ungeziefer» vor. Diese genaue Ungenauigkeit öffnet, wie so oft in Meisterwerken, das Bestimmbare ins Unbestimmbare. Denn wer beim Lesen auf schnelle Gewissheiten verzichtet, gewinnt intellektuelle Freiheit.
Literatur sei nicht Abbild, sondern Konstruktion, nicht Darstellung, sondern Erschaffung, meinte der argentinische Weltliterat und sprachkundige Jahrhundert­bibliothekar Jorge Luis Borges; und Lesen sei eine dem Schreiben ebenbürtige Kunstform. Demzufolge wächst dem Leser die Rolle eines Texterzeugers zu. Er haucht den schwarzen Lettern Leben ein, weist ihnen eine Bedeutung zu, verfolgt mit kriminalistischem Eifer sorgfältig gesponnene Spuren und schließt die Lücken, die der Autor lässt. – Die Marquise von O... von Heinrich von Kleist ist ein berühmt-berüchtigter Lückentext. Er trägt Leerstellen bereits im Titel, in die uns der Schrift- und Fallensteller Kleist getrost tappen lässt. Beim Lesen vervollständigen wir diese Unbestimmtheitsstellen und entscheiden, ob es sich bei der erzählten «unerhörten Begebenheit» um nichts Geringeres als eine Vergewaltigung oder einen Liebesakt handelt. Wie in einer Art Gerichtsverfahren gilt es, ein Urteil zu fällen, das ein genaues Studium der Indizien voraussetzt. Ist «Graf F...» ein Engel, Teufel oder Liebender? Handelt es sich bei der «Marquise von O...» um eine Heilige, ein Opfer oder eine Liebende? Kleist hat uns keine Konsumentenrolle zugedacht, sondern die eines verantwortungsvollen Sinnproduzenten, der im Netz konträrer Deutungsmöglichkeiten versucht, sich einen Reim zu machen.
Ein voraussetzungsreicher Text benötigt das, was Vladimir Nabokov mit seinem Appell fordert: «Lesen Sie gründlich, liebkosen Sie die Details.»

Nabokov erläutert in seiner Kunst des Lesens, dass ein guter Leser immer ein Wieder-Leser ist. Er wählt hierzu den Vergleich zwischen Gemälde und Buch. Beim Betrachten eines Bildes ist es möglich, sowohl das Ganze als auch seine Teile gleichzeitig wahrzunehmen. Beim Buch jedoch brauchen wir mindestens zwei Durchgänge, um die Details zum Ganzen in Beziehung setzen zu können. Re-Lektüren ermöglichen darüber hinaus, Details im Echoraum der Literatur miteinander zu verknüpfen. So hat Nabokovs Figur Humbert Humbert sein Vorbild im Rotkäppchen. Er setzt der minderjährigen Lolita wie ein hungriger Wolf nach. Dieser perverse Tölpel ist gefährlich, wie uns Nabokovs Kontrafaktur zeigt. Denn nicht der Wolf ist am Ende tot, sondern das Mädchen. Nabokov meinte, dass jeder gelungene Text ein Märchen sei. Märchen sind Truhen, gefüllt mit gehüteten Tabus. Vielleicht ist Lolita deshalb so berühmt geworden.

Im sanften Fallen bemerkt Lewis Carolls’ Alice Wände voller Bücherregale – das Wunder­land des Lesens führt tief hinab.
Geschichten werden Höhlen, die sich dem Absolutismus der Wirklichkeit widersetzen, so der Philosoph Hans Blumenberg. Sie sind Schatzkammern und Schutzräume, in denen der Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt sind. Ihr Futteral besteht aus dem weichen Samt und der glänzenden Seide der Sprache. Die Schönheit des Stils vermag Trost zu spenden, weit eher, als es ein Happy End oder eine moralisch integre Figur könnten.
Fellweich und flaumenleicht hüllen solcherlei Sätze ein. So auch der erste Satz von Christian Krachts Roman Imperium: «Unter den langen weißen Wolken, unter der prächtigen Sonne, unter dem hellen Firmament, da war erst ein langgedehntes Tuten zu hören, dann rief die Schiffsglocke eindringlich zum Mittag, und ein malayischer Boy schritt sanftmütig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behut­samem Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück wieder eingeschlafen waren.»
Ein ruhiger Wellenschlag ist spürbar, an den wir uns getrost anlehnen können. Das gemächliche Dahingleiten des Satzes, sein verlässliches Schreiten, erzeugt Vertrauen und Geborgenheit. In dieser artistischen Prosa ist alles gut aufgehoben, sie sitzt perfekt und schafft eine heilsame Ordnung. Gerade die «Weltfremdheit» des Sprachkunstwerks führt uns in einen behüteten Hort und sicheren Hafen und vermag damit wie ein Bollwerk der Wirklichkeit ihre Macht zu nehmen.